25. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2022

Margherita von Brentano

von Mario Keßler

Die bloße Verharmlosung des Dritten Reichs ist eine schreckliche Verharmlosung. Das Dritte Reich hinterließ Berge von Leichen. Die DDR hinterließ Berge von Karteikarten. Der Nationalsozialismus wurde von außen besiegt, der reale Sozialismus von innen; die Revolution der DDR jedenfalls ist das Verdienst von Menschen dort und nicht der Bundesrepublik. Wer oder was qualifiziert uns Wessis, nun wie eine Siegermacht oder wie Kolonialherren aufzutreten?“

Der Satz – „das Dritte Reich hinterließ Berge von Leichen, die DDR hinterließ Berge von Karteikarten“ – wurde dem Schriftsteller Heiner Müller zugeschrieben; der SPD-Politiker Erhard Eppler beanspruchte 1995, ihn zuerst gesagt zu haben. Tatsächlich aber formulierte ihn vier Jahre früher Margherita von Brentano in einem Interview mit der Berliner Zeitung Wochenpost. Ihr 100. Geburtstag am 9. September gibt genug Anlass, an diese Frau zu erinnern. Wer war Margherita von Brentano?

Sie entstammte jener weitverzweigten ursprünglich italienischen Familie, die eine Reihe von Dichtern (Clemens), Philosophen (Franz), Nationalökonomen (Lujo), Politikern (Lorenz) und Diplomaten hervorgebracht hatte; zu letzteren gehörten ihr Vater Clemens und ihr Onkel Heinrich, der spätere Bundesaußenminister (ein anderer Onkel, der Schriftsteller und Journalist Bernard, hatte in der Weimarer Republik der KPD angehört). Geboren in der Rheinpfalz, wuchs sie in Berlin und Rom auf, wo ihr Vater an der deutschen Botschaft arbeitete. Seine diplomatische Laufbahn, durch das Nazireich unterbrochen, fand ihren Abschluss 1951 in der Ernennung zum Botschafter in Rom.

Nach dem Abitur in Berlin studierte sie Philosophie in Freiburg/Breisgau, notabene bei Martin Heidegger, aber auch Geschichte bei Gerhard Ritter sowie Germanistik und Anglistik. Die Dissertation über einen Grundbegriff der aristotelischen Philosophie (das ἕν [hén], die unteilbare Einheit allen Seins) ging noch auf Heidegger zurück; nach dessen Entlassung durch die französische Besatzungsmacht wurde sie 1948 von Robert Heiß promoviert. Anschließend arbeitete sie als Redakteurin beim Südwestfunk und stieß mit ihren Bildungsprogrammen sowie der Herausgabe der zweisprachigen Kulturzeitschrift La rencontre – Das Treffen Türen zur demokratischen Kultur der Nachbarvölker auf. 1956 kehrte sie – für eine Frau damals keineswegs selbstverständlich – in die Wissenschaft zurück: Sie wurde an der Freien Universität Berlin Assistentin des heute zu Unrecht fast vergessenen Wilhelm Weischedel, der im Krieg dem Widerstand angehört hatte.

Als Frau war sie in einem männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb Außenseiterin, privat verband sie sich mit einem anderen Außenseiter, dem jüdischen Religionssoziologen Jacob Taubes, doch hielt die Ehe mit dem Exzentriker nicht lange.

Auch die akademische Laufbahn verlief nicht geradlinig; was half, war die Demokratisierung der Hochschullandschaft, die der Noch-nicht-Professorin unter der Präsidentschaft des gleichfalls unkonventionellen Rolf Kreibich die Wahl zur Vizepräsidentin der Universität ermöglichte. Im Jahr 1972, in dem Jahr, in dem endlich die Ernennung zur Professorin folgte, trat Margherita von Brentano jedoch vorzeitig als Vizepräsidentin zurück. Der Grund war die durch Kultursenator Werner Stein (SPD) verhinderte Berufung Ernest Mandels zum Professor an die FU – gegen den Wunsch der Universität. Der berühmte Ökonom und aktive Trotzkist galt als derart gefährlich, dass Innenminister Hans-Dietrich Genscher ihm sogar die Einreise in die Bundesrepublik verbot. Das Verbot wurde auf West-Berlin ausgedehnt. Fast ist es überflüssig zu erwähnen, dass Mandel auch in die DDR nicht einreisen durfte und seine Schriften, anders als im Westen, dort verboten waren.

Damit sind wir bei der politischen Persönlichkeit Margherita von Brentano. Von der Kantschen Ethik kommend, erschloss sie sich intensiv die Geschichte und Theorie des Sozialismus wie auch die politische Geschichte der Arbeiterbewegung, verstand sich am Ende als undogmatische Marxistin. Sie gehörte zum Gründerkreis der Zeitschrift Das Argument, die ihr Student Wolfgang Fritz Haug seit 1959 herausgab. Bevor die Studentenbewegung zur nennenswerten politischen Größe wurde, setzte sie sich für Reformen an der Universität wie in der Gesellschaft ein – hierher gehörte auch ihre frühe Forderung nach Anerkennung der DDR wie der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Nachkriegsgrenzen in Europa (deren Anerkennung ihr Onkel Heinrich als Außenminister beharrlich bekämpfte).

Bleibende Bedeutung erwarb sich Margherita von Brentano durch ihre mehrjährigen, an der FU abgehaltenen Lehrveranstaltungen „Zur Analyse des faschistischen Antisemitismus“ (so der Titel) wie auch zur „Endlösung – Ihre Funktion in Theorie und Praxis“. Drängende politische Fragen verband sie mit philosophisch-ethischen Problemstellungen. Ob es um die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ ging oder den Anschlag auf die Demokratie in der Spiegel-Affäre, um die Verständigung mit Polen, um Kenntnisse der DDR-Philosophie oder die Solidarität mit kritischen und dort ausgegrenzten und verfolgten Kommunisten von Ernst Bloch bis Rudolf Bahro – stets verstand sie ihre Arbeit und ihr Auftreten, so formulierte es ihr Schüler Peter McLaughlin, als „politische Parteinahme für die Wahrheit.“

Zu den eindrucksvollsten Passagen zweier Bände, die von ihrem Leben und Denken künden, zählen Margherita von Brentanos Worte zum Mord an den Juden. Dieser hatte keinen „vernünftigen, realitätsgerechten Sinn“, doch war er innerhalb des Faschismus durchaus zweckgerichtet. Es war „der Versuch, einen wahnhaften Mythos wahrzumachen, indem man ihn der Realität aufzwang“. Um ihrer Ohnmacht willen wurden die Juden umgebracht. „Die Ermordung der ohnmächtigen Gruppe war Vorübung für die geplante Versklavung und biologische Auslöschung mächtigerer Völker. Und als diese nicht gelang, wurde jene stellvertretend zu Ende geführt.“

So verwirklichte Margherita von Brentano, schrieb ihre Schülerin Susan Neiman, „in ihrem Denken und Handeln eine Position, die in der Bundesrepublik oft beschworen wird, aber selten gelingt“. Am 21. März 1995 starb die Denkerin und Kämpferin 72-jährig in Berlin. Die beiden, von Susan Neiman, Iris Nachum und Peter McLaughlin aus dem Nachlass herausgegebenen Bände ihrer Schriften, Manuskripte und Selbstzeugnisse zeigen, wie wichtig Margherita von Brentano über ihren Tod hinaus blieb und bleibt. Sie engagierte sich besonders für die Belange von Frauen in der Wissenschaft, doch war sie keine Feministin im plakativen Sinn. Das Zentrum für Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin trägt heute ihren Namen.

Margherita von Brentano: Das Politische und das Persönliche. Eine Collage, hrsg. von Iris Nachum und Susan Neiman, Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 542 Seiten.

Margherita von Brentano: Akademische Schriften, hrsg. von Peter McLaughlin, Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 500 Seiten.

Die Bände kosten jeweils 34,90 Euro und sind noch über den Verlag zu beziehen.