Michail Gorbatschow ist am 30. August 2022 in Moskau im Alter von 91 Jahren verstorben. Er war der letzte Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und letzter Staatschef der Sowjetunion. Die Zeit aus Hamburg betonte erwartungsgemäß: „In Deutschland verehrt, in Russland verachtet“. Der Spiegel nannte ihn einen „Anti-Putin“, meinte aber, „in seiner Politik war die russische Katastrophe von heute schon mit angelegt“. Das neue deutschland bezeichnete ihn als „ungeliebten Visionär“, der „ohne Absicht den Westen begeistert und seine Landsleute ins Verderben gestürzt“ habe.
Hier sind verschiedene Anmerkungen nachzutragen. Gleichsam wie eine russische Matrjoschka-Puppe hatte das sowjetische Imperium mehrere Gestalten. Im Innern befand sich Russland, das von der Moskauer Führung immer als Hausmacht behandelt wurde – als Chruschtschow die Idee hatte, der russischen KP-Organisation ein eigenes Zentralkomitee zu geben, wie es auch die Ukrainische KP und andere hatten, war dies einer der Punkte, die 1964 zu seiner Ablösung führten. Die zweite Figur war die Sowjetunion in ihrer territorial-politischen Gestalt bis zu ihrem Zerfall, in der Literatur oft das „innere Imperium“ genannt. Hier hatte die Moskauer Führung den direkten Zugriff auf alle Ressourcen und Entscheidungen. Die dritte Figur war das „äußere Imperium“ in Osteuropa, also die mit der Sowjetunion verbundene, von ihr beherrschte Gruppe von Staaten, die in einem völkerrechtlichen Sinne selbständig waren. Über deren Ressourcen konnte die Moskauer Führung über den Kopf der dortigen Führer hinweg nur bedingt verfügen. Die vierte, äußere Gestalt war der Versuch, sowjetische Macht und sowjetischen Einfluss in die Dritte Welt zu projezieren, nach dem Zerfall der imperialistischen Kolonialsysteme die befreiten Länder als Ressource in der Blockkonfrontation mit dem Westen zu nutzen. Hier war die wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung für die Sowjetunion noch problematischer als in Osteuropa; am Ende war sie in regionale Kriege verstrickt. Der Krieg bzw. die Niederlage in Afghanistan (1979–89) markierte den Anfang vom Ende der sowjetischen Weltmachtambitionen.
Waren für die sowjetische Außenpolitik nach 1917 weltrevolutionäre Ansätze bestimmend, so wurde die UdSSR nach 1945 zu einer eher klassischen Großmacht mit globalen Ambitionen. Das Ergebnis jedoch war ein globales Überengagement, das in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen stand. Das Imperium war überdehnt. Als Gorbatschow 1985 sein Amt als Generalsekretär antrat, war dies die Schlussbilanz der alten, stalinistisch geprägten Machthaber (von Stalin über Chrutschtschow und Breshnew bis Tschernenko) und der Ausgangspunkt seiner Umgestaltungs-Politik.
Hier ergibt sich die Frage, woher Gorbatschow kam. Zu den seltsamen Eigenheiten des realsozialistischen Herrschaftssystems gehörte die Kaderauswahl auf immer niedrigerem Niveau. In Ostdeutschland etwa wurde dies oft in der Vereinfachung reflektiert, die Greise der SED-Führung seien am Scheitern des Realsozialismus schuld gewesen; nicht das Herrschaftssystem. Doch diese grauen Gestalten standen am Ende des Kommunismus, am Anfang standen Lichtgestalten wie Rosa Luxemburg, Ruth Fischer oder Willi Münzenberg. Sie wurden verschlungen, nicht nur vom „Klassenfeind“, sondern auch von der eigenen Partei. Es waren die Strukturen des Herrschaftssystems, das Parteiverständnis, letztlich das Gesellschaftskonzept, die den Abstieg von Luxemburg zu Honecker oder von Lenin zu Breshnew bewirkten.
Soziologisch beschrieben wurden derartige Entwicklungen bereits – völlig unpolitisch und jedenfalls nicht auf den Realsozialismus bezogen – von dem Soziologen C. Northcote Parkinson in den 1950er Jahren. Er beschreibt den Zustand der „schleichenden Büro-Paralyse“ wie folgt: „Die höchsten Vorgesetzten sind muffige, schwerfällige Gesellen, ihre Untergebenen werden nur munter, wenn sie gegeneinander intrigieren und die Stuhlbeine der Nachbarn ansägen, und die jüngsten Mitarbeiter wirken entweder zynisch oder enttäuscht.“ Das klingt bereits wie eine Beschreibung des realsozialistischen Herrschaftsapparates in den 1980er Jahren. Weiter beschreibt Parkinson die Krankheit wie folgt: „Langsam, aber sicher füllt sich die Hauptverwaltung mit Männern, die dümmer sind als der Direktor, Präsident oder Manager. Wenn der Kopf der Organisation zweitklassig ist, wird er darauf achten, dass seine unmittelbaren Untergebenen drittklassig sind. Und diese werden ihrerseits zuverlässig dafür sorgen, dass der Rest der Angestelltenschaft viertklassig ist. Bald wird es tatsächlich zu einem Wettkampf der Dummheit kommen, wobei jeder vorgibt, noch weniger Gehirn als sein Nachbar zu besitzen.“ Dies sei dann die Phase der permanenten Schlafsucht der Institution. Jedoch: „Sie kann im Zustand des Dauerschlafes noch zwanzig Jahre dahinvegetieren.“ Rettung könne unerwarteterweise daher kommen, dass einzelne Individuen eine Art Immunität gegen diese Schlafkrankheit entwickeln. „Anfangs verstecken sie ihre Qualitäten unter einer Maske der heiteren Idiotie. Sie machen das so gut, dass die Sonderbeauftragten für Qualitäts-Eliminierung (aus Dummheit) unfähig werden, die Fähigkeit des Mitarbeiters rechtzeitig zu erkennen, obwohl sie greifbar vor ihrer Nase liegt. Das wirklich tüchtige Mitglied dringt jetzt durch den äußeren Verteidigungsgürtel langsam ins Zentrum des Verwaltungsapparates ein und beginnt, die Stufenleiter nach oben zu erklimmen… Erst wenn er zur Spitze emporgestiegen ist, lässt er die Maske fallen und erscheint nun den Lemuren des Angestelltenstabes furchtbar wie ein Fürst der Unterwelt.“
Etwa so vollzog sich der Durchmarsch Gorbatschows durch die realsozialistischen Institutionen, bis ihn Juri Andropow, viele Jahre Geheimdienstchef und nach Breshnew KPdSU-Generalsekretär, in Moskau deponierte. Dabei jedoch scheint Gorbatschow ein eher pragmatisches Verhältnis zu den ideologischen Chiffren des Realsozialismus hergestellt zu haben. Er beherrschte wie kein anderer die ideologischen Figuren des sowjetischen Kommunismus; deshalb gelang es ihm, von 1985 bis 1990 alle Versuche der Orthodoxen, seine Ablösung herbeizuführen, zu vereiteln. Aber das bedeutete nicht, dass er ein wirkliches Verständnis für das Ausmaß und die Tiefe der Probleme hatte, vor denen die Sowjetunion stand. Der „Verrats“-Vorwurf, der in den Moskauer Eliten und auch in Berlin später erhoben wurde, trifft die Sache nicht. Es war die Sozialisation in den stalinistischen Wandelgängen der Macht, die ihn geprägt hatte. Er war gebildeter, eloquenter als alle anderen sowjetischen Parteiführer, wahrscheinlich seit Trotzki. Und er war gewillt, nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch das Blutvergießen um der Macht willen endlich zu beenden. Aber er kannte die Macht offenbar nur in zweierlei Formen: als Blutvergießen und als Hofintrige. Nicht als Moment von Herrschaft an sich. Das trug offenbar dazu bei, dass die Perestroika in Verbindung mit Glasnost nicht zu einer Konsolidierung, wie ursprünglich beabsichtigt, sondern zum Zerfall des Sozialismus und der Sowjetunion geriet.
Gorbatschow brachte zunächst durch ein weitgehendes Entgegenkommen die Sowjetunion in den Abrüstungsverhandlungen in eine offensive außenpolitische Position gegenüber den USA und trug so zu einer Öffnung der Verhandlungen bei. Die Reduzierung der Rüstungslasten sollte die erste Richtung sein, die imperiale Überdehnung zurückzuführen. Die zweite war das Herausziehen der Sowjetunion aus den Konflikten in der Dritten Welt. Mit den USA und den jeweils anderen beteiligten Konfliktparteien wurden Vereinbarungen zur Regelung in Afrika, Mittelamerika, Kambodscha, schließlich Afghanistan getroffen. Mittlerweile hatte Gorbatschow nicht nur bezüglich der Verbündeten in der Dritten Welt, sondern auch gegenüber denen im osteuropäischen „äußeren Imperium“ die „freie Wahl des Entwicklungsweges“ verkündet, mit anderen Worten: die Parteiführungen in Osteuropa sollten sich ihre Legitimierung bei ihrer respektiven Bevölkerung selbst verschaffen, jedenfalls sowjetische Truppen zur Machtsicherung nicht mehr zur Verfügung stehen. Inwieweit seine Versicherungen, dass die historische Entscheidung „für den Sozialismus“ unwiderruflich sei, Ausdruck einer eklatanten Fehleinschätzung war, lässt sich heute nicht mehr sagen. Der Vergleich zu den Reformen Deng Xiapings in China zeigt, dass bei dem Bemühen, aus dem überkommenen Staatssozialismus zu einem funktionierenden Sozialismus zu kommen, in dem es der Bevölkerungsmehrheit immer besser geht, nicht das Machtsystem und die Wirtschaft gleichzeitig reformiert werden können. Das konnte Gorbatschow seinerzeit nicht wissen.
Die Beendigung des Kalten Krieges dürfte die große historische Leistung Gorbatschows sein, die bleibt. Der Westen hat die Chance, dies für die Schaffung einer allgemeinen Friedensordnung zu nutzen, ausgeschlagen. Er wollte unbedingt „gesiegt“ haben.
Schlagwörter: Erhart Crome, Gorbatschow, Kaderauswahl, kalter Krieg, Perestroika, Sowjetunion