von Jörn Schütrumpf
Vielleicht stimmt die Geschichte, daß sich Mario Keßler irgendwann infiziert habe – an Jürgen Kuczynski, einem seiner Forschungsgegenstände. Von dem behaupteten einst böse Zungen, daß er Bücher schneller schriebe, als viele Menschen sie lesen könnten. Keßlers Buchausstoß hat den von Jürgen Kuczynski zwar noch nicht erreicht; aber die Richtung ist unübersehbar. Drei Titel sollen hier in Rede stehen. Auch in ihnen bleibt Keßler seinem Ruf treu, eine Art selbstberufener Re-Integrationsbeauftragter für ausgetriebene deutsche Geistesgrößen zu sein.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeitet er nun schon daran. Ganz gleich, was Keßler anfaßt, stets reißt er die große eiternde Wunde auf, die die deutschen Eliten mit ihrer Verschwörung gegen die Weimarer Republik gemeinsam mit den von ihnen zum Bündnispartner erkorenen Nationalsozialisten Deutschland, Europa und der Welt zufügten.
An seine Forschungen über die Remigranten unter den vertriebenen deutschen Historikern schließt das von Keßlers herausgegebene Buch Deutsche Historiker im Exil an. Die Sensation dieses Bandes ist ohne Zweifel der Beitrag Liberale und antiliberale Geschichtsschreibung in Deutschland, den der spätere Bismarck-Biograph Ernst Engelberg 1937 als 28jähriger im Schweizer Exil verfaßte und der hier erstmals vorgelegt wird. Sein Thema: deutsche Historiker als Mittäter auf seiten von Nationalismus, Militarismus und Demokratiefeindlichkeit. Unchiffriert wird hier erzählt, wer wem das Bett bereitete.
Auch Wolfgang Ruges kafkaeske Geschichte, wie er als Gulag-Häftling an der Universität von Swerdlowsk ein Fernstudium im Fach Geschichte absolvierte, ist hier zu Recht noch einmal aufgenommen. Wladislaw Hedeler berichtet über die Schicksale, die nach 1936 deutschen Historikern am Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut bereitet wurden; Beklemmung ist für das Gefühl, das beim Lesen übermächtig wird, ein zu schwaches Wort. Lesens- und bedenkenswert die klugen Studien über Arthur Rosenberg, Jürgen Kuczynski (diesmal nicht von Keßler, sondern von Axel Fair-Schulz), über Franz Borkenau, Hans Baron und Hans Rothfels – Deutschland war einmal ein interessantes Land. Mit einer interessanten Arbeiterbewegung, der Keßlers zweiter Band gewidmet ist.
Er hebt an mit dem Thema Antisemitismus und Arbeiterbewegung, mit dem Keßler bekannt wurde, von 1848 bis in die Nachkriegszeit. Beim Lesen ist mir wieder das gesamte Ausmaß an Dilettantismus und Dümmlichkeit der sogenannten Analysen bewußt geworden, mit denen uns in den vergangenen Jahren die – bis zum nicht verhinderten Ausbruch der Hartz-IV-Proteste im Sommer 2004 wohl gutdotierten – »Antideutschen« zu belästigen wagten. Vergessen, verweht. (Welche Truppe wird nach Marxistischer Gruppe und »Antideutschen« wohl zur Zeit finanziert?) Nicht minder erhellend ist das, was Mario Keßler zu Intellektuellen und Arbeiterbewegung zu sagen weiß – von Paul Singer und Hugo Haase über Kurt Eisner und Karl Korsch bis zu Jürgen Kuczynski und anderen in die Emigration Getriebenen.
Einer, der auch überlebte und nach Deutschland zurückkam – wenngleich nicht in dessen Osten und eigentlich auch nicht in dessen Westen, sondern nach Westberlin, weil er nur hier Arbeit finden konnte –, war der Ex-Kommunist und Ewig-Linke Ossip K. Flechtheim, einer der Väter der Futurologie. Ihm hat Keßler nach Arthur Rosenberg (siehe Das Blättchen, 10/2004, Mario Keßlers Erwiderung: 15/2004) die nächste große Biographie gewidmet. In Rußland geboren; im wohlhabenden und toleranten jüdischen Milieu Düsseldorfs aufgewachsen; schon als Schüler ein glühender Verehrer der Bolschewiki; als Jurastudent ein Salonbolschewist, der seinem Professor versprach, ihn als Stütze des bourgeoisen Regimes nach der deutschen Revolution zwar zum Tode zu verurteilen, das Urteil – als Ausdruck seiner Sympathie und Wertschätzung – aber nicht per Strang, sondern durch Erschießen ausführen zu lassen; trotzdem zu klug, in Stalin den Messias zu sehen, war das KPD-Mitglied Flechtheim ab 1929 zugleich bei Neu Beginnen engagiert – jenem informellen Zusammenschluß aus Sozialdemokraten und Kommunisten, die in den Strukturen ihrer Parteien versuchten, ihre Führungen vom politischen Selbstmord auf Kosten ihrer Mitglieder und Wähler abzuhalten.
Aus dem Raum zwischen den Stühlen ist Flechtheim sein langes Leben lang nie wieder herausgekommen. Trotzdem hatte er, anders als viele andere Flüchtlinge, oft Glück – nicht zuletzt das, von seiner Frau Lili Faktor, der Tochter von Emil Faktor, bis 1933 Chefredakteur des Berliner Börsen-Couriers, dem 1939 Prag zur tödlichen Falle geworden war, immer wieder auf den Boden zurückgezogen zu werden. Von Flechtheims Leistungen können hier nur sein hellsichtiges und von der weiteren Forschung weitgehend bestätigtes KPD-Buch von 1947 – ein Klassiker – und seine Arbeiten in der Futurologie erwähnt werden. 1972 schrieb er über die Zukunftsforschung: »Wie die Medizin eine Krankheit diagnostiziert und diese in ihrem künftigen Verlauf prognostiziert, um eine Therapie durchführen zu können, so muß auch die Futurologie die Gefahren und Bedrohungen von heute und morgen diagnostizieren, prognostizieren und ›therapieren‹. Mehr noch: Analog der Medizin … forscht auch die Futurologie nach Mitteln und Wegen zur Verhütung von Fehlentwicklungen.«
Keßler erzählt, wie schon in anderen seiner jüngeren Arbeiten, das Leben seines Haupthelden als Gruppen-Biographie: Die Lebenswege von Franz Neumann, Hans Mayer, John (Hans) Herz, Franz Borkenau, Herbert Marcuse, Nathan Steinberger, Richard Löwenthal, Ernst Engelberg, Otto Kirchheimer, Robert Jungk, Ernst Fraenkel und vielen anderen, mit denen sich Flechtheims Weg kreuzte, werden immer wieder eingeblendet.
Das ist wirklich ein unendlich fruchtbarer Ansatz – für den Leser nicht nur hochinformativ, sondern auch anregend. Keßler, der schon auf ein umfangreiches Werk zurückblicken kann und, am Beginn seines sechsten Lebensjahrzehnts stehend, für einen Historiker trotzdem eher noch jung ist – Historiker müssen viel mehr und viel länger als andere Wissenschaftler arbeiten, ehe sie zum »großen Wurf« ausholen –, kann man nur ermutigen, auf diesem Weg weiterzugehen. Dem Vernehmen nach sind als nächstes ein Buch über Kommunismusforscher in der frühen Bundesrepublik und eine Ruth-Fischer-Biographie in Vorbereitung – beides zweifellos große Stoffe.
Mario Keßler: Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909–1998), Böhlau-Verlag Köln/Weimar/Wien 2007, 291 Seiten, 39,90 Euro; Ders.: Vom bürgerlichen Zeitalter zur Globalisierung. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Hochschulschriften 8), trafo Verlag Berlin 2005, 209 Seiten, 21,80 Euro; Ders. (Hrsg.): Deutsche Historiker im Exil (1933–1945). Ausgewählte Studien, Metropol Verlag Berlin 2005, 339 Seiten, 19 Euro
Schlagwörter: Jörn Schütrumpf, Mario Keßler, Ossip K. Flechtheim