25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Wie lebte man im „Dritten Reich“?

von Alfons Markuske

„Hinweg mit diesem Wort, dem bösen,
Mit seinem jüdisch grellen Schein!
Wie kann ein Mann von deutschem Wesen
Ein Intellektueller sein!“

Zitiert von Tillmann Bendikowski
nach Dietz Bering „Die Epoche der Intellektuellen“

An Büchern über das „Dritte Reich“ aus der Feder deutscher wie auch auswärtiger Autoren herrscht hierzulande gewiss kein Mangel. Wozu also noch eines, könnte man fragen. Wäre da nicht das noch immer keineswegs erschöpfend untersuchte Problem, warum und wie sich die übergroße Mehrheit der Deutschen – nur rund 500.000 flohen, solange es noch ging – mit der verbrecherischsten Diktatur, die die Welt bis dahin gesehen hatte, arrangieren und der Nazi-Herrschaft damit ein sicheres Fundament praktisch bis zum Untergang im Mai 1945 geben konnte.

Womöglich liefert der stinknormale Alltag in Hitler-Deutschland, in dem die breite Masse des Volkes bis in die Kriegsjahre hinein ein Leben in – gemessen an der Endzeit der Weimarer Republik – relativer sozialer Sicherheit auf einem zwar mäßigen, aber doch allgemeinen Wohlstandsniveau führen konnte, einen Schlüssel zum Verständnis der Loyalität der Deutschen zum NS-Regime und zu der Frage: „Wie konnte diese Diktatur funktionieren?“ Der emigrierte Publizist Sebastian Haffner hatte bereits 1939 resümiert: „Es ist typisch wenigstens für die ersten Jahre der Nazizeit, daß die ganze Façade des normalen Lebens kaum verändert stehen blieb: volle Kinos, Theater, Cafés, tanzende Paare in Gärten und Dielen, Spaziergänger harmlos flanierend auf den Straßen, junge Leute glücklich ausgestreckt an den Badestränden.“

In diesem Alltag war das Verbrecherische (wie die Ausgrenzung und Verfolgung von Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen bis hin zu ihrer Internierung und Ermordung in Gefängnissen und KZs) nicht ständig und so vordergründig präsent, dass es unbedingt zur Kenntnis genommen werden musste. Es war dies eine Zeit, so Tillmann Bendikowski in seinem Wälzer „Hitlerwetter“, um den es hier geht, in der „das vorherrschende Lebensgefühl der Deutschen […] keineswegs die Angst vor persönlicher Verfolgung war. […] Vielmehr waren die meisten Deutschen mit der herrschenden Politik durchaus zufrieden, entweder in Gänze oder über weite Strecken, und sie trugen ihren Teil zum Funktionieren des Systems bei“.

In Hinblick auf den Alltag im „Dritten Reich“ liefert Bendikowski eine große Fülle von Informationen und Einsichten, wie sie in dieser Form denn doch noch nicht präsentiert worden sind. Für seinen Überblick hat der Autor das Jahr 1939 gewählt, die Halbzeit des Tausendjährigen Reiches und das letzte Friedensjahr für Europa, das am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen endete. Wobei der Krieg, wie Bendikowski unterstreicht, von Anfang an als antisemitischer und antislawischer Vernichtungskrieg geführt wurde.

In zwölf Kapiteln – beginnend mit Weihnachten 1938 und bis zum Attentat von Georg Elser auf den „Führer“ und seine Entourage im November 1939 – entfaltet Bendikowski sein höchst facettenreiches Panorama. Es widmet sich den öffentlichen Auftritten Hitlers und ihrer Wirkung (am Beispiel seiner Rede vor dem Reichstag am 30. Januar 1939) ebenso wie „Führers“ 50. Geburtstag am 20. April jenes Jahres, an dem sich ein Tsunami an öffentlichen Huldigungen über das Land ergoss, die zum Teil selbst die Überschreitung der Grenze zum Grotesken nicht scheuten, und beleuchtet den von den Nazis zelebrierten Muttertag, den von ihnen zur Festigung der „Volksgemeinschaft“ ebenso perfide wie professionell vereinnahmten 1. Mai, den staatlich organisierten Kollektivtourismus unter dem Label „Kraft durch Freude“ und etliche weitere systemrelevante und -typische Phänomene.

Ein eigenes Kapitel – „Woran die Deutschen glauben“ – befasst sich mit der Rolle der beiden christlichen Großkirchen, der evangelischen wie der katholischen, im Vorkriegsdeutschland. Immerhin waren die damaligen Deutschen ein Volk christlichen Glaubens. Von 80 Millionen Einwohnern waren 70 Millionen bei einer dieser Kirchen eingeschrieben. Und, wie der Autor zusammenfasst: „Die christlichen Kirchen mit ihren Bischöfen, ihrem Besitz und ihren zahllosen Verbänden, ihren karitativen Einrichtungen und den traditionell exzellenten Verbindungen in die Politik sind in Deutschland eine feste gesellschaftliche Größe. Gegen sie kann eine Regierung auf lange Sicht nicht erfolgreich Politik machen.“ Die Nazi-Führung trug diesem Sachverhalt Rechnung: Unter ihrem Regime konnte „ein jeder nach Bedarf sowohl Mitglied einer christlichen Kirche als auch Befürworter dieser Diktatur sein“. Und die Kirchenführungen ihrerseits gingen zwar nicht durchweg so weit, dem Regime offen zu huldigen wie jene evangelischen Amtsträger, die am 25. März 1939 die sogenannte „Godesberger Erklärung“ verfassten, in der es hieß: „Mit allen Kräften des Glaubens und des tätigen Lebens dienen wir dem Manne, der unser Volk aus Knechtschaft und Not zu Freiheit und herrlicher Größe geführt hat.“ Doch das Regime gestützt haben die beiden Großkirchen allemal – und sei es durch Passivität, Wegsehen, Stillhalten. Das passte durchaus zur gelebten Einstellung der meisten Christen im Lande, die, so Bendikowski, „erstaunlich wenig Hemmungen“ zeigten, „dem vermeintlich ‚Andersgläubigen‘ in seiner Not nicht zu Hilfe zu eilen“. Zuvorderst galt dies für die Juden, worüber bei den Christen weitgehend „Einigkeit“ geherrscht habe.

An wenigstens einer Stelle des Buches mag sich der Leser im Hier und Jetzt – vom damaligen Stil der Sprache abgesehen – verdutzt an aktuelle Zustände gemahnt fühlen und sich fragen: „Was, damals auch schon?“ Im Oktober 1939 beklagte Oberst Hans Frießner, seines Zeichens „Inspekteur der Offizier-Anwärter-Lehrgänge“, vulgo zuständig für den militärischen Führungsnachwuchs, in einer Denkschrift nämlich „den Rückgang der höheren Schul- und Hochschulbildung“ der Jugend. Generell habe die Schulbildung „sehr stark nachgelassen“, daher müsse in den Klassen unbedingt wieder „fleißiger und intensiver gearbeitet werden“. Frießners Verdikt: „Unsere heutige Jugend kann […] weder sich konzentrieren, noch hat sie richtig geistig arbeiten gelernt.“ Das Wohl des Landes stehe auf dem Spiel: „Jeder, der sich mit der Schulfrage der Jugend unserer Zeit befaßt, weiß, daß es so nicht weiter gehen kann. Schweigen und Stillhalten sind nur ein Zeichen von Schwäche. Es ist höchste Zeit, daß gehandelt wird, um den Wert unserer Schulen wieder zu verbessern und unserer Jugend und damit der Nation den Bildungserfolg zu sichern, den sie zur Lösung ihrer Lebensaufgaben brauchen.“ Gottseidank waren die Ursachen der damaligen Misere – etwa antisemitische Intellektuellenfeindlichkeit, wie sie sich zum Beispiel in dem eingangs zitierten Spottvers manifestierte – jedoch gänzlich andere als heute, wie Bendikowski herausarbeitet.

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„Kaiserwetter“ ist eine umgangssprachliche Metapher für sonniges Wetter bei tiefblauem, wolkenlosem Himmel. Früher auch gern bemüht, wenn österreichische oder deutsche Monarchen sich bei entsprechender meteorologischer Disposition ihrem Volke zeigten oder Manövern ihrer Land- oder Seestreitkräfte unter freiem Himmel beiwohnten. Mit augenscheinlich adaptiver Absicht notierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels unter dem 1. Mai 1933 in seinem Tagebuch: „Gestern drohte noch Regen, heute strahlt die Sonne. Richtiges Hitlerwetter! Nun wird alles zum Besten verlaufen.“

Bei Bendikowski findet sich der Begriff „Hitlerwetter“ nur zweimal – im Kapitel über die Huldigungsexzesse zu Hitlers 50.; an dem Tag spielte das Wetter im Reich offensichtlich mit, wozu der Autor die Niederrheinische Volkszeitung vom 21. April 1939 zitiert: „Es gibt einen Ausdruck, in dem sich die Freude des deutschen Volkes an den Feiertagen der Nation ein sinnfälliges Symbol geschaffen hat – Hitlerwetter!“

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Arge Zweifel an seiner allgemeinen Kompetenz und seinem Urteilsvermögen lässt Bendikowski allerdings dort aufkommen, wo er – über seinen Gegenstand hinausgehend – den Bogen in die Nachkriegszeit und bis in die Gegenwart schlägt.

So vermerkt er in seinem Nachwort, dass nach dem Untergang des Nazireiches „die Täter und ihre Millionen Unterstützer noch immer im Land lebten und – im Westen wie durchaus auch im Osten [Hervorhebung – A.M.] – schon bald wieder einflussreiche Positionen innehaben sollten“. Damit bedient er zwar das bei tiefblauem, wolkenlosem Himmel unverändert gern aufgerufene Pauschalklischee der Gleichsetzung von BRD und DDR im Hinblick auf den Umgang mit Nazi-Tätern, doch es dürfte ihm, sollte er denn je den Versuch unternehmen, kaum gelingen, einen empirischen Nachweis dafür zu erbringen. Weder gab es im kleineren deutschen Staat eine auch nur im Entferntesten vergleichbare flächendeckende Durchseuchung des Staatsapparates, speziell der Verwaltungen, der Justiz, der Lehrerschaft und später des Militärs, und nicht zuletzt der Medien mit Funktions- und Verantwortungsträgern des „Dritten Reiches“ wie in der Bundesrepublik, noch schafften es in der DDR einzelne NS-Exponenten in ähnliche Führungspositionen wie Hans Globke (Kommentator der Nürnberger Rassegesetze) als Chef des Bundeskanzleramtes und rechte Hand Adenauers von 1953 bis 1963 oder in exponierte Stellungen mit gesellschaftlichem Renommee wie Heinz Reinefarth (Generalleutnant der Waffen-SS, Massenmörder bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes von 1944 mit allein bis zu 50.000 Toten unter der dortigen Zivilbevölkerung) als Landtagsabgeordneter in Schleswig-Holstein und langjähriger Bürgermeister von Westerland auf Sylt.

Bereits in seinem Vorwort hatte Bendikowski die in den 1950er und 1960er Jahren im Westdeutschen vorherrschende weich gespülte Sicht auf die Nazi-Zeit – damals sei „auch nicht alles schlecht gewesen“ –, ohne den historischen Vorläufer auch nur zu erwähnen, der „Ostalgie“ im Jetzt angekreidet, die als „verniedlichte Haltung im Umgang mit der DDR-Geschichte“ zwar „menschlich nachvollziehbar […], aber für einen gesellschaftlichen Lernprozess angesichts der Katastrophen deutscher Diktaturen“ nicht tauglich sei. Da der Autor als Historiker und Publizist jedoch vermutlich ernst genommen werden will, kann man ihm diese Nivellierung nicht durchgehen lassen: Die SED-Diktatur hat (schlimm genug) Berge von Stasi-Akten hinterlassen, aber keine sechs Millionen ermordeten Juden, keine drei Millionen ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen und schon gar nicht 27 Millionen Kriegstote allein in der UdSSR.

Das Buch als Ganzes entwertet dieser Nachtrag nicht. Aber ein sachgerechtes Lektorat hätte den Autor vor diesen Entgleisungen bewahren können. Andererseits erscheinen die entsprechenden Stellen im Buch – aufgesetzt. Nur dass diese kurzen Passagen dem Autor vom Hause C. Bertelsmann vielleicht gar nahegelegt worden sein könnten, das will sich der Besprecher denn doch lieber nicht ernsthaft vorstellen …

Tillmann Bendikowski: Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39, C. Bertelsmann, München 2022, 560 Seiten, 26,00 Euro (gebunden), 19,99 Euro (Kindle).