Was hat dieser Mann nicht alles geleistet! Als Journalist war Ralf Schenk Filmkritiker und Filmhistoriker, hat Bücher über Filme herausgebracht, an Fernsehdokumentationen als Autor mitgearbeitet, saß in vielen Gremien, auch in der Auswahlkommission der Berlinale (von der er bereits in den achtziger Jahren berichtete), recherchierte unermüdlich in Archiven, hat im Rundfunk gesprochen und Zuschauergespräche geführt. Höhepunkt war sicherlich, als er 2012 bis 2020 Vorstand der DEFA-Stiftung war und in Filmwochen auf der ganzen Welt die Filme aus einer vergangenen Zeit vorstellte. Auch für die Restaurierung nicht fertiggestellter DEFA-Filme engagierte er sich – zuletzt 2021 „Fräulein Schmetterling“, gedreht von Kurt Barthel 1965 nach einem Szenarium von Christa und Gerhard Wolf. Hat er die große Produktivität aufgebracht, weil er ahnte, dass ihm keine Zeit für ein Alterswerk bleiben würde?
Wie wir uns kennenlernten, weiß ich nicht mehr genau. Es war vor über 40 Jahren, als wir beide in der Filmklubbewegung der DDR aktiv waren. Schenk erwies sich anfangs im heimatlichen Suhl als Filmverrückter, schrieb als Jugendlicher schon eifrig Leserbriefe und bald auch Kritiken im Freien Wort. Während seines Journalistikstudiums in Leipzig wurde das Filmkunsttheater Casino mit seinem außergewöhnlichen Filmprogramm sein zweites Zuhause, wo er bald den Jugendfilmklub leitete. Mit 23 kam er 1979 als Redakteur zu Film und Fernsehen, einem Mittelding zwischen Publikums- und Fachzeitschrift. Hier lieferte ich meine ersten Kritiken ab. Wenige Jahre später wechselte Schenk in die Redaktion der Weltbühne. Unter seinem Pseudonym Marin Mund war er jahrelang in fast jedem Heft vertreten, schrieb zwar über viele Filmthemen, ließ aber auch seiner speziellen Liebe zum ungarischen Film freien Lauf. Er grub in der Weltbühnen-Historie, reflektierte über Béla Balázs, den Theoretiker der zwanziger Jahre, und die Wiederauflage eines seiner Bücher: „Warum eigentlich sind unsere Kritiken oft so fehlproportioniert? Warum reden wir meist umfänglich über Inhalte und so selten gründlicher über diejenigen, die sie uns am unmittelbarsten vermitteln, die Schauspieler?“ Er versuchte es besser zu machen. In seiner Besprechung von Peter Schamonis „Frühlingssinfonie“ (1983) schrieb er Rolf Hoppe als altem Wieck eine Eloge: „Hoppe, außerordentlich subtil, bringt Hintergründiges ein, deutet Unterbewußtes in der Beziehung zu Clara an – eine pralle Studie, stimmig in jeder Regung der Figur.“
Als ich in der Zeitschrift Unterhaltungskunst eine ironische Rezension der Memoiren von Dagmar Koller veröffentlichte, fragte er: „Warum schreiben Sie so lustige Sachen nicht bei uns?“ Fortan lieferte ich der Weltbühne Glossen und kleine Kritiken. Es waren die achtziger Jahre der Stagnation – nicht nur in der Weltbühne. Doch Ralf Schenk gelang es, gelegentlich wider den Stachel zu löcken, er erlaubte sich geschützt durch das Pseudonym kleine Frechheiten, griff beispielsweise die Einkaufspolitik des DEFA-Außenhandels an. Mich ließ er erstmals in der Weltbühne die Besprechung einer Comic-Ausstellung schreiben, die damals im Französischen Kulturzentrum lief und die ich genau genommen gar nicht besuchen durfte. Im Herbst 1989 war er mein Redakteur, als ich in der Weltbühne erstmals seit den sechziger Jahren über Robert Havemann schreiben konnte.
In den beruflich unsicheren frühen Neunzigern verdingte er sich als Redakteur bei der Wochenpost, wo ich ihn mit Starporträts (unter anderem der „Lindenstraßen“-Schauspieler) versorgte, und schrieb auch für Das Magazin.
Von den vielen Büchern, die Schenk als Herausgeber und Mitautor verantwortete, war ich 2019 auch in einem seiner letzten mit kleinen Porträts vertreten: „Sie“ über Regisseurinnen der DEFA. Er hatte noch viele Pläne. Buchmanuskripte über die DEFA-Regisseure Slatan Dudow und Rainer Simon harrten ihrer Vollendung, als er am 17. August mit nur 66 Jahren gehen musste. Dr. h.c. Ralf Schenk hat viel für die Aufarbeitung der DEFA-Geschichte getan und in der Wüste wiederkehrender Geschichtsvergessenheit wohltuende Inseln geschaffen.
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