25. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2022

Kulturelle Aneignung oder Ethnopluralismus von links

von Stephan Wohanka

In Bern wurde ein Konzert der Band Lauwarm abgebrochen, da die weißen Musiker Rastalocken und afrikanische Kleidung trugen und Reggae-Musik spielten. In einem Leitartikel der Berliner Zeitung, der auf diesen Eklat rekurriert, ist zu lesen: „ […] schwarze Menschen verletzt die Tatsache, verständlicherweise, […], dass Weiße nach jahrzehntelanger Abwertung nun selbst Locs (so im Original, gemeint sind Rastalocken – St. W.) tragen […] Das ist einfach ungerecht. Deshalb prangern sie (die schwarzen Menschen – St. W.) das Aussehen der Musiker als kulturelle Aneignung an.“

Damit ist wieder „Bewegung“ in ein Thema gekommen, das schon jahrelang im Kontext des Postkolonialismus und des Critical-Whiteness-Aktivismus – hat jemand eine brauchbare Übersetzung? – , der politisch korrekten Sprache und des Verhältnisses der Kulturen zueinander, ja der Kunstfreiheit als solcher nicht nur Gegenstand des Feuilletons war und ist, sondern harter politischer Kontroversen.

Sind also Dreadlocks (noch ein Begriff für Rastalocken) bei Weißen Ausdruck kultureller Aneignung? Bezeichnenderweise trägt der zitierte Leitartikel die Überschrift „Es geht um Macht“: Die Macht zu entscheiden, was andere als rassistisch empfinden dürfen. Und um den Satz: Also, das ist doch nun wirklich kein Rassismus! Weiße Menschen sind es gewohnt, die Deutungshoheit zu haben und wollen reflexartig die Strukturen aufrechterhalten. 

Folgt man der US-amerikanischen Juraprofessorin Susan Scafidi, die sich in ­ihrem Buch „Who Owns Culture? Appropriation and Authenticity in American Law“ mit der Frage beschäftigt, ob das individuelle Urheberrecht auch für Gemeinschaften gelten könne, dann sei kulturelle Aneignung eine „unerlaubte Wegnahme geistigen Eigentums, traditionellen Wissens oder kultureller Artefakte“. Ausgesprochen schädlich sei dies, wenn „die Quelle eine Minderheit ist, die unterdrückt oder in anderer Weise ausgebeutet wurde oder wenn das angeeignete Objekt besonders sensibel ist, beispielsweise Heiligtümer“. Gegen kulturellen Austausch und gegenseitige Beeinflussung sei im Prinzip nichts einzuwenden, jedoch müssten gesellschaftliche Machtverhältnisse berücksichtigt werden.

„Kulturelle Macht bewahren“, „Machtverhältnisse berücksichtigen“ – dass wir es mit einer (kolonialen) Herrschaftsgeschichte auch auf dem Felde der Kultur zu tun hatten – unbestritten. Aber wie will man heute nach Jahrhunderte währender gegenseitiger kultureller Infiltration auf kultureller „Reinheit“ bestehen? Wäre das überhaupt sinnvoll? Weißen Menschen das Tragen von Rastalocken, afrikanischer Kleidung und das Ausüben „afrikanischer“ Musik zu „verbieten“, zeugt eher von Kleinkariertheit, Dauerbeleidigtsein als von kultureller Souveränität; notwendig um die eigene Kultur und auch den eigenen Standpunkt in der Sache einbringen zu können in einen fruchtbaren Dialog. Kulturelle Hegemonie gesellschaftlicher Gruppierungen manifestiert sich auf zwei Arten – als Herrschaft oder Zwang einerseits oder/und als intellektuell-moralische Führung oder Konsens andererseits; sie ist eng mit den jeweiligen politischen Machtverhältnissen verbunden. An deren Veränderung kann man arbeiten; aber sie sind so wie sie sind… 

Immer wieder und so auch im zitierten Leitartikel muss Elvis Presley als Platzhalter kultureller Aneignung herhalten, der mit dem Rock’n’Roll als „schwarzer“ Musik Millionen gemacht habe, während die Urheber dieser Musik in rassistischer Unterdrückung lebten. Da schimmert wohl ein gewisser Neid durch; aber sei’s drum. 

Jedoch nicht von ungefähr bildet die Popmusik ein Zentrum der Debatte. Sie ist eine Musik-, ja Kunstform, die lange Zeit von Weißen dominiert war und die zweifellos auf kultureller Aneignung beruht: Ohne „afrikanischen“ Einfluss wäre Presley ein Dutzendsänger unter vielen gewesen, der Blues als Wurzel eines Großteils der populären Musik wie auch des Soul mit seinen spirituellen Elementen und des Jazz als amerikanisches Pendant zur klassischen Musik Europas wäre so nicht entstanden, ebenso wenig der Hiphop, die dominante, paradigmatische Musik im heutigen Pop. Natürlich hat sich seitdem vieles geändert. Im US-amerikanischen Musikbusiness üben heute nicht-weiße Stars wie Beyoncé, Jay-Z oder Rihanna größeren künstlerischen und kommerziellen Einfluss aus als je zuvor.

Aber auch die Mode respektive Bekleidung ist Gegenstand der Auseinandersetzung um die „Cultural Appropriation“. Um es mit der Stimme einer so angekündigten „Salomé! Die Autorin ist vegane Katzenliebhaberin, derzeit wohnhaft in NRW, Person of Color, und führt nach eigenen Angaben kein allzu bemerkenswertes Leben“ zu belegen: „Japaner_innen sind NICHT hellauf begeistert davon, dass Polyesterkimono als Karnevals- oder Halloweenkostüme verkauft werden. Inder_innen sind NICHT erfreut von Hipstern, die sich Bindis (Punkte oder Schmuck – St. W.) auf die Stirn kleben. Cherokee, Sioux, Choctaw und andere Ureinwohner_innen Amerikas finden es NICHT großartig, dass die gleichen Hipsterkids sich Warbonnets (Kriegsfederschmuck der Prärieindianer – St. W.) über den Kopf ziehen“. Woher weiß Salomé das so genau? Japanerinnen, Inderinnen und indianische Völker degradiert sie zur amorphen Masse und unterstellt ihnen eine kollektiv-einheitliche, ungeteilte Auffassung zu ihrer eigenen Kleidung und deren Accessoires. Individuell mögen die Genannten dazu eine gleichgültige oder spöttische Distanz pflegen; hat sie jemand gefragt? Diverse „Salomés“ legen ihnen nahe, ihre Kultur „rein zu halten“, vor vermeintlichen „Verlusten“ an andere Kulturen und Missbrauch durch diese zu schützen.

Obige Zitate zeigen exemplarisch, dass sich Aktivisten, Schreiber und Blogger derartiger Diskurse als antirassis­tisch, links und emanzipatorisch verstehen. Schaut man genauer hin, fällt auf: Die Argumentation in den Texten, Blogs schüren Zweifel an dieser Ausrichtung. Es fällt eine bedenkliche Nähe zum Ethnopluralismus auf, dessen Vertreter eine kulturelle Homogenität von Staaten und Gesellschaften nach „Ethnien“ anstreben. Statt wie im biologistisch-klassischen Rassismus definieren sie Ethnien nicht nach ihrer Abstammung, sondern nach der Zugehörigkeit zu einer Kultur, um sie so von „Fremden“ zu unterscheiden. Einflüsse der als „fremd“ betrachteten Kulturen werden als Gefährdung der „eigenen Identität“ verstanden. Im Unterschied zum „klassischen“ Rassismus postuliert der Ethnopluralismus nicht zwingend die Höherwertigkeit eines eigenen Volkes, sondern jedem „Volk“ sollte das gleiche Recht und der gleiche Anspruch auf seine nationale und kulturelle Identität zugestanden werden; dies allerdings ausschließlich „an seinem Platz“. Hinter der Ablehnung kultureller Aneignung wiederum verbirgt sich die Überzeugung, es gäbe heute noch „reinrassige“ Kulturen, die möglichst unberührt von jeglicher Form der Beeinflussung durch andere Kulturen oder „artfremder Entnahmen“ zu erhalten respektive zu schützen seien. Über diese „Entnahmen“ wird eifersüchtig gewacht und den „Tätern“ mit Stigmatisierung als Verletzern mindestens von Gefühlen sich betroffen fühlender Menschen gedroht. Hierin liegt die Nähe zu rechten Positionen, denn politische und soziale Gruppen, die gegen die vermeintlich weiße Hegemonie in der Kultur kämpfen, agieren so immer öfter wie die Rechten als Spalter der Gesellschaft in „Wir“ gegen „Die“ – meint apodiktisch-pauschalisierend „weiße Menschen“, die es „gewohnt“ seien, „die Deutungshoheit zu haben“. 

Das Phänomen, Sprach- und andere Tabus zu erfinden, ist für die linke Szene nichts Neues. Wobei es sich in vielen Fällen hierzulande ebenfalls um „kulturelle Aneignung“ handelt, denn diese „Eingebungen“ wie political correctness, safe spaces für übersensible Studentinnen oder wokeness wurde wie so vieles aus den USA „importiert“. So ist auch die Brasserie Lorraine in Bern – Bühne des Dramas – ein basisdemokratisch organisiertes Lokal und versteht sich als „safe-space“ für queere Personen aller Art.