25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Sturm und Drang. Geschichte der deutschen Literatur I“ – Volksbühne / Gedenken: Elisabeth Hauptmann zum 125. Geburtstag.

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VB: Sturm und Drang 

Wo ich bin, ist Deutschland, meinte Thomas Mann. Gleiches gestand er Goethe zu. In „Lotte in Weimar“, seinem zwischen 1936 und 1939 entstandenen, so unterhaltsamen wie geistreichen, obendrein politischen (die lieben Deutschen!) Roman, beschreibt er den Weimar-Besuch 1815 der Charlotte Kestner, geborene Buff, und das Wiedersehen mit „dem Alten“, ihrer Jugendliebe. Ist doch die ergraute Dame jene Lotte, die 1771 den damals 23-jährigen Heißsporn Goethe zu seinem Bestseller „Die Leiden des jungen Werther“ inspirierte.

Passagen aus beiden Klassikern und noch dazu Zitate von Klopstock, Hölderlin, Jünger sowie aus Manns Novelle „Tod in Venedig“ (1912) verschnitt der Regisseur Julien Gosselin zu einer pausenlosen (!) Dreieinhalb-Stunden-Collage „Sturm und Drang. Geschichte der deutschen Literatur I“. Der Franzose, Jahrgang 1987, im Nachbarland bekannt durch Roman-Adaptionen und Literatur-Puzzles, greift also ins ganz Große, zur deutschen Literaturgeschichte. Und verspricht kühn weitere Teile derselben.

Um es gleich zu sagen: Wir sind nicht sonderlich gespannt auf die Fortsetzungen. Ist doch schon die erste Vorlesung nebst Versuchen, zugleich in Tiefen und Untiefen deutschen Wesens (oder Unwesens?) durchzudringen, wenig erhellend. Was da wie und warum stürmt und wohin es drängt (ins radikal Innerliche, ins Totalitäre?), kein Lüftchen der Erkenntnis dringt aus dem zweigeteilten Sperrholzbühnenbild von Lisetta Buccellato.

Zum einen sehen wir das mit billigem Trödel dekorierte Hotel „Elephant“ zu Weimar (die spätere Hitler-Absteige), wo Charlotte, ankommend mit wackeliger Postkutsche, residiert; zum anderen die einer Armenhaus-Baracke gleichende Behausung Charlottens in Wetzlar.

Im Dämmer der abwechselnd auf der Drehbühne vorgezeigten Gehäuse steckt das jeweils passende Personal des Mannschen oder Goetheschen Romans: unter anderem Benny Claessens als depressiver Hofrat Riemer, Hendrik Arnst im aggressiven Kommandoton als Hotelkellner Mager, dazu die beiden Hauptpersonen von Goethes Briefroman Marie Rosa Tietjen als knäbischer Werther und Victoria Quesnal im Doppel als Girlie-Lotte oder unentwegt entgeisterte Kästner-Buff. Und alle rattern sie – noch mikrophonverstärkt – emsig mit Text. Wir erleben es auf gleich drei ausladenden Leinwänden – weil wir im Post-Castorfschen Volksbühnen-Kino sind. Nur schade, dass die extra eingeflogenen Videoleute längst nicht so geübt sind wie einst die von Frank Castorf. Deutlicher Abstieg; bescheidener Unterhaltungswert. Bei älteren Zuschauern werden sehnsüchtige Erinnerungen geweckt an Egon Günthers wahrlich buchenswerte Defa-Verfilmung von „Lotte in Weimar“ mit unter anderem Lilli Palmer als Lotte, Rolf Ludwig als Mager und Jutta Hoffmann als Adele Schopenhauer (die Schwester des Philosophen), die heftig sächselnd vor betrüblichen Verhaltensauffälligkeiten des übergriffigen Goethe-Sohns August warnt. Jetzt, bei Gosselin, wird – überflüssiges Extra – noch länglich monologisiert über Gustav von Aschenbachs Probleme mit der Endlichkeit kunstvoller Schöpferkraft im choleraverseuchten Venedig.

Nach zwei Stunden Szenenwechsel. Und Eintritt in den finsteren deutschen Mythen-Wald mit Baumriesen aus Pappmaschee, in dessen bedrohlich ausgreifenden Schatten Superstar Martin Wuttke erst – das zweite Extra – ein bisschen als Aschenbach, dann endlich als Goethe groß gerahmt Reden schwingt über Leiden und Wuchten genialen Künstlertums. „Ich bin Schoß und Samen zugleich“, krächzt Geheimrat Wuttke nervös hochgespannt aus gespenstischem Dunkeldickicht. Um dann zu ziemlich später Stunde dem großen Lümmel, dem Volk, noch fix eins überzubraten: „Wenn ich tot bin, werden sie sich wieder ausdrücken wie die Ferkel.“

Alles in allem: Es dröhnt der Größenwahn aus den Lautsprecherboxen zusammen mit den Wumms vom Soundtrack. Ein schier endloses Zitaten-Leporello, wie der märchenhafte Brei, den kein Zauberlehrling, kein Publikum in den Griff bekommt, derweil die Regie längst schon den Löffel abgab.

Und so quält sich das Ensemble tapfer über die Runden, die Kameras laufen heiß, das Publikum erkaltet und flüchtet hinaus ins Klo und ins Freie. Was da als aufwändiges XXL-Spektakel in fröhlicher Anlehnung an altbekannt monumentale Volksbühnen-Veranstaltungen großspurig angekündigt war, verpufft als läppisch epigonales Kino-Palaver mit bis zum Brechreiz überreichlich beigestelltem Zitate-Eintopf. Doch keine Sorge: Die deutsche Literaturgeschichte samt des Stürmens und Drängens bleibt uns ja im Netz. Man darf, bitteschön, googeln.

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Bess zum 125. 

„Ach, Brecht ist wieder hier, sagte eine Freundin. Und eines Nachmittags hat er sie dann besucht“, erinnert sich Elisabeth Hauptmann. Die 27-jährige Lehrerin – sie schlug sich in Berlin als Bürosekretärin durch – sollte unbedingt dabei sein beim intellektuellen Klatsch mit einem fast Gleichaltrigen der Szene, war aber völlig vergrippt, hatte mithin an diesem verregneten Oktobertag des Jahres 1924 absolut keine Lust aufs Teetrinken mit einem höchstens in Kennerkreisen gefeierten, hoffnungsvoll stückeschreibenden Dramaturgen vom Deutschen Theater. Dennoch, sie ließ sich breitschlagen, hockte mürrisch am Tisch und schwieg. „Ich sah da einen sehr dünnen Menschen mit Lederjacke, sehr freundlich, und der erzählte vom Theater. Dann musste er weg. Nächsten Morgen ging das Telefon. ‚Hier Brecht. Ich bin noch nie so unfreundlich verabschiedet worden!‘ Ja, dann habe ich versucht, etwas freundlicher zu sein. Und daraus ergab sich dann diese lange Mitarbeiterschaft…“ Es wurden 32 Jahre.

„Bess“ war Brechts kreativste Bezugsperson seines – vom Gedichteschreiben abgesehen – permanent kollektiven Arbeitsprozesses; war seine Sekretärin und Managerin für lange Zeit. Und für kurz seine Geliebte. Nach Brechts Tod 1956 amtierte sie (KPD-Mitglied seit 1929, seit 1949 SED) zwei Jahre lang als Parteisekretärin am Berliner Ensemble. 1958 begann die Arbeit an der Herausgabe Brechts Gesammelter Werke letzter Hand im Suhrkamp Verlag, die teilweise und verändert auch im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienen.

Im April 1973 starb Elisabeth Flora Charlotte Hauptmann, die am 20. Juni 1897 in der westfälischen Provinz in bürgerlichen Verhältnissen geboren wurde – heute vor 125 Jahren.

Ein Jahrzehnt vor ihrem Tod präzisiert sie selbst in einem Testament ihren Anteil am Label Brecht. Denn der Umgang mit Copyrights wurde zunächst „gar nicht schwer tragisch genommen“. Demnach stünden ihr vertraglich abgesichert Tantiemen an folgenden Teamwork-Produkten zu: „Happy End“, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, „Die Dreigroschenoper“, „Don Juan“, „Pauken und Trompeten“, „Volpone“, „Hirse für die Achte“, „Die erste Reiterarmee“, „Optimistische Tragödie“, „Zwei Herren von Verona“.

Es ist übertrieben kritische, ja demagogische Nachrede, Brecht-Mitarbeiter(innen) seien ausschließlich Opfer schamlos männlicher Ausbeutung gewesen. Die eigenwilligen Damen empfanden nämlich ihre durchaus vielseitig hingebungsvolle Mitarbeit und die damit verbundenen Inspirationen als ziemlich beglückend. Und doch schloss ihre Bindung an den genialen Egomanen seelisches Leid nicht aus. Ob aber der notorische Polygamist sie, wie gern behauptet, abgehalten habe von autonomer Künstlerschaft, sei dahingestellt. Die Hauptmann jedenfalls hat es stets stolz verneint.

Hauptmanns jahrzehntelanges Engagement für b.b. und die lebensabschnittweise intime Liason mit ihm hat kaum mit Kalkül zu tun, sondern mit großer Lust auf diesen Kerl mit diesem Kopf. „Die Sachen, die ihn interessierten, waren auch für uns interessant. Dabei haben wir unendlich viel gelacht während der ernstesten Arbeit. Und viel gedillidallit“, womit Brechts Rumblödeln gemeint war. „Er brauchte jemanden, der bestimmte Sachen begriff oder etwas, was er nicht so gut konnte, dass der andere das konnte.“ Vor allem bei den Dramen ging es nicht ohne Gegenüber; Brecht machte auch keinen Hehl draus, das besorgten andere.

Übrigens, als freie Autorin hätte E.H., als ihr Ende der 1920er dieser Weg offenstand, womöglich kaum überleben können. Da kam ihr die Identifikation mit der Werkstatt sowie dem Manne Brecht gerade recht. Konnte doch diese so kluge wie unkonventionelle Frau als Mitglied des B.-B.-Betriebs ihr emanzipatorisches Bedürfnis ausleben. Hielt man sich doch in besagter Firma für Avantgarde! Für das strikte Gegenteil von spießig und pflegte so genannte offene Beziehungen.

Freilich, die große Offenheit ließ auch Raum für Katastrophen. Der Brecht im Karpfenteich schrieb poetisch zerknirscht: „Ich weiß es: ich habe zu viel geliebt. Ich habe zu viel Leiber gefüllt, zu viel orange Himmel verbraucht. Ich soll ausgerottet werden. / Meine Geliebten bringen ein bisschen Kalk mit in den Händen, die ich geküsst…“

Tatsächlich, der Himmel war, als Hauptmann und Brecht sich schicksalhaft begegneten, extrem orangefarben. Turtelte doch der Lederjacken-Schlacks noch immer mit seiner Jugendliebe „Bittersweet“ Banholzer (Sohn Frank), war frisch verheiratet mit Marianne Zoff (Tochter Hanne) und liiert mit der schwangeren Helene Weigel (Sohn Stefan), die wiederum den beiden ihre Atelierwohnung in der Spichernstraße überließ und sich noch um eine Bleibe für Zoff und Baby kümmerte. So scheinbar gelassen und vor allem diskret (man siezte sich beharrlich vor Dritten) Brechts kollektives Liebes- und Arbeitsleben ablief, es donnerte auch gehörig im rosa Gewölk. Als der erotische Vielfraß 1929 die Weigel heiratete, während er hinterrücks ein Verhältnis mit der Schauspielerin Carola Neher pflegte, berühmt als Polly in der „Dreigroschenoper“, versuchte Bess sich umzubringen.

Trotz allem: Das bissige Wort vom „Sex für Text“ greift daneben, erst recht bei den Brecht aus freien Stücken treu und krisengeschüttelt verbundenen Gefährtinnen wie Ruth Berlau oder eben Elisabeth Hauptmann; Margarete Steffin starb auf dem Weg in die Emigration 1942 in Moskau an Tbc. Auch gab es für diese starken Frauen noch andere Männer neben Brecht. E.H. beispielsweise war zweimal verheiratet, zuletzt mit dem Komponisten Paul Dessau.

Doch das letztlich stärkste Bindemittel war die vielbeschworene „dritte Sache“; eben das Stücke-Werk sowie die Durchsetzung einer neuen Art Theater, des epischen, an dem natürlich auch Männer teilhatten – Auden, Besson, Dessau, Dudow, Eisler, Neher, Feuchtwanger oder Weisenborn. Und schließlich gehörte zum großen Dritten eine kommunistisch geprägte politische Grundüberzeugung, die bei Brecht erst gegen Ende seines Lebens ernstlich zu bröckeln begann mit seinem Zweifeln an der Reformfähigkeit des Systems.

Die in der DDR durch Devisenkonto und Reisefreiheit privilegierte Hauptmann schwenkte trotz Formalismusdebatte, Chruschtschow-Rede oder Prag 68 die Fahne bis hin zum Opportunismus. Etwa wehrte sie sich verbissen gegen eine Drucklegung des sarkastischen Zehnzeilers „Die Lösung“, in dem Brecht nach dem 17. Juni 53 vorschlägt, die DDR-Regierung solle das Volk auflösen und sich ein anderes wählen. Doch bei allem trotzigen Glauben an den sozialistischen Fortschritt, gerade die frühen 50er Jahre, die intellektuelle Vernachlässigung durch Brecht, an dessen Ruhm sie kaum teilhatte, zehrten an ihrer Gesundheit.

Am Ende ihres 75-jährigen Daseins war Elisabeth Hauptmann zwar auch offiziell hoch respektiert und geehrt, fühlte sich aber verlassen und einsam, gleichwohl sie umgeben war von Brecht-Schülern, -Forschern, -Geliebten und -Beiseitegeschobenen. Ihr Grab, wenige Wege entfernt vom lebenslang geliebten „Arbeitsfreund“ auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wäre längst gelöscht worden, hätte nicht die Friedhofsverwaltung dagegen entschieden.

Es ist ein Urnengrab mit kleinem Stein, unscheinbar, wie das – sinnigerweise nur wenige Schritte entfernt – von Ruth Berlau.

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Ruth und Bess – aktuelle Präsenz im BE und Renaissance-Theater

Zufälligerweise sind gerade jetzt die beiden Frauen präsent auf Berliner Bühnen. Im BE läuft noch bis zum 2. Juli „BERLAU: Königreich der Geister. Eine Live-Performance mit Virtual Reality von Raum und Zeit“. Ausgestattet mit einer VR-Brille begibt sich das Publikum jeweils einzeln geführt in eine szenische Installation, um auf diese unkonventionelle Art dem Brecht und der Berlau, die 1974 psychisch krank bei einem selbstverschuldeten Brand im Charité-Bett starb, live wie virtuell nahe zu kommen.

Außerdem im BE: Barrie Koskys ruhmreiche „Dreigroschenoper“-Inszenierung mit der kleinen Besonderheit: Dass endlich die Hauptmann ausdrücklich als Mit-Autorin schon in allen Ankündigungen genannt wird. Das Stück ist eben nicht nur von Brecht/Weill.

Im Berliner Renaissance-Theater läuft in Serie bis in die nächste Spielzeit eine elegant stylishe Inszenierung (Sebastian Sommer) von Elisabeth Hauptmanns Gangster-Komödie „Happy End“ (Musik und Songtexte: Kurt Weill, Bertolt Brecht). Die melodramatisch durchgeknallte, saftig ironische und mit Welthits („Surabaya Johnny“) gespickte, antikapitalistisch gefärbte Unterhaltsamkeit entstand 1929 zwischen „Dreigroschenoper“ (1928) und „Mahagonny“ (1930). Inzwischen auch ein Klassiker.