25. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2022

EUROPÄISCHER FRÜHLING

von Henry-Martin Klemt

Ein Kanzler, der Beethoven spielt
auf der Blechtrommel. Eine Weiche,
die umgelegt wird für den Zug
der Zeit, quietschend. Ein Land,
das seinen Fuß dazwischen hat. Europa
steht noch auf den Anzeigetafeln.
Wer Bahnhof versteht, liest:
Asien, Indien, Afrika und hört:
America First. Spießige Punks
mit Werbeverträgen, betuliche
Rebellen mit klebrigen Händen
drängen sich, Flüchtlinge: Gar
keines Falles dürfen die etwas
haben, was du dir nicht
leisten kannst! Wer bin du?
Wer bist ich? Auferstanden aus
dem Schrott nie beendeter Kriege.
Überladen, brandheiß wie ein
Handyakku aus dem Hinterhof
der Diplomatie, in der es seltene
Erden noch im Plural gibt. Von
goldenen Türmen die Ouvertüre,
nach der getanzt wird zwischen
den Einschlägen der Raketen. Während
der Chor ewiger Wahrheit marschiert,
Dirigenten sich im Reigen drehen, im
Minutentakt das Gedächtnis auf-
und untertaucht, große Fische sich
im Nichtschwimmerbecken noch
einmal streicheln lassen, bevor sie
der Blutspur folgen, spielen die
Eichhörnchen verrückt, denn es ist
Mai. Todmüde gähnen die Löcher
im Kalender, im europäischen Haus,
in Zeitungsspalten. Bevor der Krieg uns
ein Härchen krümmt, ergreift er,
wo jeder alles weiß, Besitz von
Zukunft, Geschichte, Wachsein
und Schlaf. Dem einen schlägt
er das letzte Stück Brot aus
den Händen, dem andern zerschlägt er
das Wort schon im Mund. Noch erreicht
das Echo der Salven uns nicht, aber der
Himmel flackert abends vom Staub
der Sahara, wenn ringsum Vernunft
verlischt. Schwer wird die Luft.
Pipelines eingerollt wie nasse
Fahnen. Demenz bietet
Dämonen auf
allen Jahrmärkten
feil.

Mai 2022