25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Zwei fast vergessene Gebäude

von Jürgen Hauschke

Beide Gebäude haben mein Leben in unterschiedlicher Weise geprägt. In dem einen habe ich nach vier Jahren Schulzeit mein Abitur abgelegt, in dem anderen nur ein paar Monate später meinen anderthalbjährigen Grundwehrdienst in der Nationalen Volksarmee antreten müssen. Das ist etwa ein halbes Jahrhundert her. Doch die Erinnerungen bleiben. Das eine Haus steht mitten in Berlin in der Auguststraße, darin befand sich damals die Erweiterte Oberschule „Max Planck“. Das andere Gebäude steht am Rande Berlins im Oranienburger Ortsteil Sachsenhausen, wo damals das Artillerieregiment „Rudolf Gyptner“ einquartiert war. Heute steht das eine seit Jahren leer, in dem anderen ist das Finanzamt von Oranienburg untergebracht. Beide Häuser haben eine ambivalente Geschichte, die über Jahrzehnte in der DDR bewusst oder unbewusst verdrängt wurde.

Regina Scheer lernte wie ich an der EOS „Max Planck“, allerdings vier Jahrgänge zuvor. In ihrer ersten Buchveröffentlichung (1992) beschreibt sie literarisch-dokumentarisch emotional packend die Geschichte des Hauses und seiner wechselnden Bewohner. Nicht nur anhand von Archivfunden bis zu den „Vermögenseinziehungsakten des Oberfinanzpräsidenten von Berlin und Brandenburg“, die alle in den Tod deportierten Berliner Juden verzeichnen, versucht sie das Leben der Betroffenen zu rekonstruieren. Bei einigen gelingt es ihr. Scheer schildert eindringlich auch, wie sie in den achtziger Jahren letzte Zeitzeugen in der Auguststraße und ihrer Umgebung suchte. Und sie fand sie. Eduard Knoblauch, der Architekt der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, entwarf das vergessene Haus als Jüdisches Krankenhaus und stellte es 1860 fertig, noch vor der Synagoge, die unmittelbar an dessen Garten grenzt. Nachdem das Krankenhaus für die Bedürfnisse der Jüdischen Gemeinde nicht mehr ausreichte und 1914 in den Wedding zog, wurde in dem Gebäude das jüdische Kinder- und Jugendheim AHAWAH (Liebe) untergebracht. Einige der Kinder konnten zwischen 1934 und 1939 nach Haifa auswandern, die Verbliebenen wurden nach Auschwitz in den Tod deportiert. 1938 wurde die Immobilie durch den faschistischen Staat enteignet. Danach diente das Haus in der Auguststraße als Sammelstelle für die Deportation der Berliner Juden. Der letzte Transport erfolgte 1943, danach gab es keine zu Deportierenden mehr.

Bereits im Juni 1945 nahm ein Gymnasium seinen Schulbetrieb in dem Gebäude auf. Im April 1947, noch zu seinen Lebzeiten und mit seinem Zuspruch, erhielt die Schule den Namen Max Plancks. In den achtziger Jahren – vermutlich im Zusammenhang mit der Gründung des Centrum Judaicum und dem geplanten Wiederaufbau der Neuen Synagoge – zog die Schule an ihren jetzigen Standort in der Singerstraße. Auf der Internetseite des Max-Planck-Gymnasiums findet man heute kein Wort über die fast vierzig Jahre des Daseins in der Auguststraße, in dem Gebäude, das so eng mit jüdischer Geschichte verbunden ist.

Wenn Regina Scheer beschreibt, wie ahnungslos Schüler und Lehrer in der DDR hinsichtlich der Geschichte ihres Schulgebäudes waren, kann ich ihr folgen. Auch die Kranzniederlegungen am Alten Jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße habe ich erlebt, dabei hätten wir unsere Schule zum Gedenken nicht einmal verlassen müssen. Erinnern kann ich mich allerdings auch noch an das merkwürdige Gefühl, wenn wir auf dem Schulhof stehend oder aus dem Klassenzimmer schauend die von jungen Bäumen überwucherte Ruine der Neuen Synagoge sahen. Was bedeutete diese Nähe? Ja, uns wurde stolz berichtet, dass Max Planck die Namensgebung mit 1000 Mark gefördert hatte. Aber welches Grauen wenige Jahre zuvor in dem Gebäude herrschte, blieb ungesagt.

Von der August- und der Oranienburger Straße der Schulzeit nach Oranienburg zum Wehrdienst. Dort erwartete mich ein zweieinhalbstöckiges Gebäude, das wegen seiner dreiflügeligen Grundform nur als T-Block bezeichnet wurde. Wie ich viel später bei Günter Morsch und Agnes Ohm las, wurde diese Bezeichnung schon bei der Planung des Hauses vor 1938 benutzt. 1936 war Sachsenhausen „als schönstes Konzentrationslager Deutschlands“ in der markanten Dreiecksform gebaut worden. Theodor Eicke, der erste Kommandant des KZ Dachau, wo er die gestreifte Häftlingskleidung und die Kennzeichnung der Häftlinge durch farbige Stoffdreiecke eingeführt hatte, war für den geplanten modellhaften Bau verantwortlich. Der spätere SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS war zu dieser Zeit bereits Leiter der Inspektion aller Konzentrationslager in Deutschland. Diese zentrale Verwaltungs- und Führungsbehörde der SS zog 1938 in den von Häftlingen gebauten T-Block am südlichen Rand des Lagers in Sachsenhausen. Davon wussten wir jungen Wehrpflichtigen nichts. Wir besuchten zwar vor der Vereidigung die Gedenkstätte im ehemaligen KZ und erfuhren von den mehr als 200.000 Häftlingen und den wenigen Überlebenden. Wegen der unmittelbaren Nachbarschaft des Lagers zu unserer Unterkunft hatten wir Vermutungen, nur keine offiziellen Erklärungen. Offensichtlich erschien, dass die Mot.- Schützen in ehemaligen SS-Kasernen lagen, aber welche Funktion hatte der repräsentative Backsteinbau, in dem wir Artilleristen uns befanden?

Nach einigen Wochen fiel mir zufällig auf, dass das gusseiserne Treppengeländer merkwürdige Formen aufwies. Die Eisenbänder waren so geschmiedet und gewinkelt, dass verschobene Hakenkreuze und SS-Runen entstanden. Durch Absägen der Spitzen war das Geländer „entnazifiziert“ worden. Von welchem Nachnutzer, Rote Armee, Kasernierte Volkspolizei oder NVA, das war nicht erkennbar. Seit 1961 gab es die Nationale Mahn- und Gedenkstätte im Lager, das angrenzende SS-Areal blieb bis zum Ende der DDR militärisches Sperrgebiet. Heute befindet sich im T-Block neben dem Finanzamt ein Teil der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Theodor Eicke hatte mehr als 30 Haupt- und über 1000 Nebenlager in seiner „effektiv“ arbeitenden Dienststelle mit etwa 100 Mitarbeitern verwaltet. Über dem Eingang im ersten Stock sieht man seinen Führerbalkon, dahinter lag sein großes Arbeitszimmer. Hier kamen monatlich die Kommandanten der Konzentrationslager im Deutschen Reich zusammen. Warum wurde uns jungen Soldaten die Geschichte dieses Gebäudes und dieses Raumes, in dem ich den üblichen Politunterricht erhielt, verschwiegen? Warum konnte der Politoffizier nichts zum T-Block sagen? Wegen der späteren Nutzung? Auch im ehemaligen KZ Dachau bei München gab es bis 1948 ein US-amerikanisches Internierungslager, das anliegende SS-Truppenlager wurde noch Jahrzehnte durch Einheiten der US-Armee in Beschlag genommen. Die KZ-Gedenkstätte eröffnete dort erst 1965.

1956 war der erste offiziell aufgestellte Verband der gerade gegründeten NVA in den T-Block eingezogen. Es war das 1. Mot.-Schützenregiment „Hans Beimler“, benannt nach dem Antifaschisten und Kämpfer der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Der T-Block selbst wurde geschichtsbereinigt, der in ihm einst praktizierte Rassismus und Antisemitismus wurde ausgeblendet. Dabei ist er ein bedeutendes, weitgehend im Original erhaltenes Bauzeugnis der faschistischen Schreibtischtäter.

Ebenso fehlt bis heute noch ein angemessener Umgang mit dem Gebäude in der Berliner Auguststraße. Es ist seit der Rückübertragung an die Jüdische Gemeinde 1992 überwiegend ungenutzt, das Tor in der Auguststraße 14-16 ist verschlossen, auf dem Hof parken Autos der Gemeinde. Pläne für ein Internat und eine jüdische Schule sind nicht verwirklicht worden. Im T-Block hingegen gibt es seit 2013 eine Dauerausstellung zur Geschichte der KZ-Inspektion in einigen der Räume, so auch im Arbeitszimmer Eickes. Seit mehr als zwei Jahren allerdings ist die Ausstellung „aufgrund der Pandemie“ geschlossen.

Wird die Geschichte der beiden Gebäude vielleicht doch vergessen werden? Daniel Liebeskind, der berühmte jüdische Architekt, warnte vor der „Banalisierung des historischen Ortes durch Veralltäglichung“. Recht hat er. Antifaschismus, der zur Worthülse verkommt, brauchen wir ebenso wenig wie einen vorgeschobenen Antifaschismus, der imperiale Ziele verdecken soll.

Regina Scheer: AHAWAH. Das vergessene Haus. Spurensuche im jüdischen Berlin. aufbau taschenbuch, Berlin 2020, 322 Seiten, 14,00 Euro (erweiterte Neuausgabe).

Günter Morsch, Agnes Ohm (Hrsg.): Die Zentrale des KZ-Terrors. Die Inspektion der Konzentrationslager 1934–1945. Eine Ausstellung am historischen Ort. Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Band 47. Metropol Verlag, Berlin 2015, 352 Seiten, 14,40 Euro.