25. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Mein Grand Prix. Pasquale Aleardi“ – Varieté Tipi am Kanzleramt, „Queen Lear“ – Gorki Theater, „Aida“ – Sächsische Staatsoper Dresden.

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Tipi: Europa-Sound im Zeitenwandel. Gleich zuerst: Ein Aufschrei meiner Begeisterung! War hin und weg zur Uraufführung von „Mein Grand Prix. Eine Europa-Gala“ mit Pasquale Aleardi als Showmaster. Die flotte Zeitreise durch fast sieben Jahrzehnte ESC betörte durch ihre geradezu überwältigende musikalische Vielfalt in den wahrlich grandiosen Arrangements von Bandleader Damian Omansen. Was für ein Sound! Dazu die schmissigen Choreografien von Regisseur Danny Costello, der mit einfach tollen Einfällen überraschte auf der von Tino Dentler und Okarina Peter effektvoll minimalistisch ausgestatteten Kleinbühne.

Großes Entertainment: glamourös (Kostüme: Heike Seidler), elegant, charmant, witzig, frech und herzlich. Mit Karacho und Tempo, aber auch vielen innigen, melancholischen Momenten. Und einem enorm starken internationalen Ensemble. Gesang und Tanz: Andreas Biber, Sigalit Feig, Anke Fiedler, Martin Mulders und in der Mitten Aleardi, der singende schweizerische Film- und Fernsehstar, der die Fülle der solistischen oder chorischen Auftritte samt ihren pop- und zeitgeschichtlichen Hintergründen amüsant plaudernd zusammenhielt.

Ein perfektes Gesamtkunstwerk (Autoren: Uli Heissig, Stefan Huber). Drei Stunden Hauptstadt-Unterhaltung vom allerfeinsten. Der rbb sollte sich sputen, diese so besondere, vom Publikum stürmisch gefeierte Europa-Revue aufzuzeichnen fürs familiäre Abendprogramm.

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Gorki: Shakespeare umgebaut von King auf Queen. Gleich anfangs, als Ouvertüre, ein zünftiger Gruß an den Zeitgeist: Triggerwarnung! Vieles werde hier aus dem Ruder laufen bis hin zur Katastrophe; fürchterliche Szenen von Gewalt stünden bevor. Stimmt. Und verwundert nicht: Wir sind schließlich bei Shakespeare. Graf Kent ist‘s (Fabian Hagen), der uns bevorstehendes Unheil verkündet, nachdem er korrekt sich vorstellte: „Bin keine Frau, sondern ein menstruierender Mensch, Pronomen: they; ab und an: sie; häufig auch: them.“ Kent perfekt queer! Mit rosa Haarbüscheltolle.

Und schon kocht der Saal vor Begeisterung und freut sich auf einen ordentlich umgebauten „Lear“. Der King ist jetzt nämlich eine Queen, ihre berüchtigt bösen Töchter Goneril und Regan sind die Söhne Prince Goneril (Tim Freudensprung) und Renegade Regan (Emre Aksizoglu). Nur die süße Cordelia behält ihren Shakespeare-Geschlechterstatus als Charming Cordelia (Yanina Ceron).

Damit nicht genug: Graf Gloster ist neuerdings Gräfin Bossy Gloster (Catherine Stoyan), Sohn Edgar ihre Tochter namens Sister Eddi (Svenja Liesau). Allein Sohn Edmund bleibt Sohn, freilich ordentlich divers als Proud Boy Edmund (Aram Tafreshian). Die Krönung der neuen Unübersichtlichkeit aber: Corinna Harfouch als Queen Lear.

Regisseur Christian Weise hat sie, verlautbart im Gorki-Magazin, überreden müssen für seinen neu gewandeten „Lear“. Und ihr leuchtete ein: „Gegenwart! Unser veränderter Blick auf Geschlechterrollen!“ Dazu passend die Meinung des Regisseurs, „King Lear“ sei „frauenfeindlich“. – Also alles umdoktern, neu schreiben, was das Autorenkollektiv Soeren Voima mit beträchtlicher Bravour besorgte.

Mit zweigeteiltem Ergebnis.

Teil eins knapp zwei Stunden bis zur Pause ist – jenseits des mythischen Shakespeare-Britanniens – ein tollkühn komisches Kabarett im futuristischen Science-Fiction-Setting einer Star-Wars-Parodie. Eine groteske Show durchgeknallter Figuren, die sich, nach Kommandos von Shakespeare, mit witzigsten Worten und geistreichen Voima-Pointen (Cancel Culture, Moraldiktatur, Gendersternchen etc.) oder mit eben wüsten Gräueltaten gegenseitig an die Gurgel gehen. Jede Menge Slapstick einschließlich Laserschwert-Dancing in schicker Choreo dekorieren zusätzlich den comic-haften Weltraumklamauk mit seinen dabei eher diffus bleibenden Allmachtkämpfen.

Queen Harfouch im schwarz gepanzerten, bei Darth Vader abgeguckten Outfit (Kostüme: Paula Wellmann) schaut dem lustig selbstzerstörerischen Treiben mit dezent befremdlichen, ansonsten mokant stoischen Blicken zu. Dabei hat sie es ausgelöst durch ihre dämliche, klassisch Learsche Verteilung ihres Erbes an ihre ebenso dämlichen Gören. Im gegebenen Fall aus dem Raumgleiter betrachtet handelt es sich um nichts weniger als die Aufteilung der Welt. Großes Gaudi im Publikum. Und man darf sagen, auch wir haben uns wie Bolle janz köstlich amüsiert.

Ohne freilich murrend zu vergessen, dass jenes Neu-Geschlechtliche keinen Beitrag leistet zum menschheitlichen Fortschritt. Es bleibt, queer hin, queer her, beim Fortschrott. Sowie bei der unbeantworteten Frage, warum denn in Gottes Namen der „Lear“ so gegen Frauen sei. Dabei übersah die Regie, dass beispielsweise die beiden so ätzend bösen Shakespeareschen Lear-Töchter bei scharfem Blick auf Williams Text auch emanzipatorisch handeln gegenüber Papa, der so blöd ist wie nunmehr ihre Mama. Hat sich also was mit schwerer Frauenfeindlichkeit.

Nun zu Teil zwei der kuriosen Veranstaltung; noch eine (längliche) Stunde nach der Pause. Das Raumschiff von Bühnenbildnerin Julia Oschatz ist abgebaut, die Leinwand hochgezogen, auf die das aberwitzige Allotria im All größtenteils mit Live-Kameras übertragen wurde. Jetzt herrschen düster dräuende Bühnenleere, Einsamkeit, Daseinselend, Lebensschmerz, Tod. Erst Klamotte, jetzt Existenzialismus. Denn Harfouch und auch Weise pochten konzeptionell „auf den ganzen Shakespeare“. Also musste das philosophisch-psychologische Endspiel, das Ausweglose schnell noch her, wirkte aber wie bloß lax angepappt.

Der Narr (Oscar Olivio) hat immerhin zu guter Letzt tröstlich schöne letzte Worte und Großkomödiantin Svenja Liesau nunmehr als Rotzgöre in kalter Nacht an der BVG-Straßenbahnhaltestelle mehrere hinreißende Monologe in allerlei Maul- und Mundarten – wenigstens das. Da kann die arme, elende, verbitterte Queen, abgewrackt im dünnen grauen Kittelchen (ein irdisch Leichenhemd?), nur noch verstummen und leise weinen.

Zum Schluss aber dürfen wir, endlich einmal, erschauern: Ein Film zeigt wie aus weiter Ferne unsern Erdball, auf dem alles Lebendige in Kampf und Krampf erstirbt.

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Semperoper: Liebe in Zeiten des Krieges. „Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben“; die Staatskapelle im Graben, der Staatsopernchor hinterm Vorhang, elektronisch verstärkt, Christian Thielemann dirigiert. Das Publikum erhebt sich von den Plätzen. Die Hymne als eine wuchtige Stimme der Selbstbehauptung. Sekunden der Stille. Langsam verlöscht das Licht. Dann beginnt wie aus fernen Sphären die Ouvertüre zu Verdis „Aida“ in der Semperoper zu Dresden.

Wir berichten davon – ausnahmsweise – im „Theaterberlin“. Weil Katharina Thalbach, der Fixstern am Berliner Theaterhimmel, das ausladende Werk über Liebe in Zeiten des Krieges inszeniert. Und weil Weltstar Christian Thielemann gleichfalls Berliner ist. Aber auch, weil ich, wie Thielemann, es ablehne, bislang weltweit gefeierten russischen Künstlern politische Bekenntnisse abzufordern. Und meine, dass der Abbruch künstlerisch immerhin segensreicher Brücken zu Russland das stets tapfer hoch gehaltene Ideal des Völkerverbindenden der Kunst allmählich beiseite drückt.

So war es denn bei dieser ersten und – Umarmungen beim Schlussapplaus – offensichtlich einvernehmlichen Zusammenarbeit Thielemann-Thalbach vernünftig, dass die Regie Zeichen direkter, also konkret-aktueller Einmischungen in das „von melodiösem Genie überquellende Opernwerk“ (Thomas Mann) vermied – und damit Peinlichkeiten eilfertig übergestülpter Realitäten aktueller Kriegsberichte.

Für die Realität der „Aida“-Kunstwelt erfand Bühnenbildner Ezio Toffolutti einen monumentalen Kasten aus Gold, sozusagen der eine Käfig, in dem die beiden so unversöhnlich sich gegenüberstehenden Kriegsparteien (Ägypter, Äthiopier) gefangen sind. Und mit ihnen das Trio der unglücklich verbundenen Protagonisten: die versklavte äthiopische Prinzessin Aida, der nach ägyptischem Etappensieg als Kriegsheld gefeierte Radamès und die ägyptische Königstochter Amneris. Beide Frauen lieben ihn, er jedoch liebt Aida aus gegnerischem Lager, was zum Verrat von Kriegsgeheimnissen führt, die bevorstehende neue Schlacht betreffend. Radamès kommt vors Kriegsgericht, wird zum Tode verurteilt; Aida hält zu ihm, beide werden lebendig begraben. Zurück bleibt Amneris. „Pace, Pace“ ruft die verzweifelt Liebende, derweil das Kellergrab sich schließt und der Vorhang sich senkt.

Die Tragödie entfaltet sich als packendes Kammerspiel; da ist die Regisseurin ganz bei sich. Deutlich weniger ist sie es bei den martialischen Aufmärschen der ägyptischen Siegesparade – das Unheimliche, Beängstigende tritt hier erstaunlich zurück; es bleibt bei überraschend gefälligen, obendrein arg blässlichen Altägypten-Nilufer-Klischees.

Umso symphonisch mächtiger und zugleich berückend im Atmosphärischen das Orchester – und die Chöre. Die auch von Verdi annoncierte große Show – das Böse denkt man sich unentwegt mit! – bleibt dabei frei vom Bombastischen. Das von aufgesetztem Aktionismus freie, mithin überwältigend Musiktheatralische entfaltet sich im dramatischen Beieinander der über Schützengräben hinweg Verliebten und der unglücklich Dritten. Ein Anti-Kriegsstück ganz aus Kunst. Keiner sagt es trefflicher als Thomas Mann: Es sei „die siegende Idealität der Musik, des menschlichen Gemüts, die hohe unwiderlegliche Beschönigung, die sie der gemeinen Grässlichkeit der wirklichen Dinge angedeihen lässt“.

Bruder im Geiste des „überquellend musikalischen Genies“ Giuseppe Verdi war Christian Thielemann. Ein Meister des Spektakulären wie Innigen; des Zarten wie Harten, vornehmlich aber hier des Zarten, des Selig Süßen und Bitteren, der musikalisch himmlischen Beschwörung des „Idealismus der Herzen“, wie Thomas Mann einst schrieb.

Freilich, er hat die rechten Instrumente dafür, die Kapelle, den Chor und nicht zuletzt das international mit Kräften unter anderem aus Russland, Belarus, den USA, Bulgarien, Italien besetzte (Welt)-Spitzen-Ensemble: Andreas Bauer Kanabis, Georg Zeppenfeld, Quinn Kelsey (das Führungspersonal der Kriegsparteien) sowie Oksana Volkova (Amneris), Krassimira Stoyanova (Aida) und Francesco Meli (Radamès). Die großen Drei hier zuletzt genannt – als überwältigender Schlussakkord.

Was für ein Triumph der Kunst inmitten der Barbarei. Und gerade in diesen Tagen: Ein herzbewegendes Hohelied des Humanen.