Frohgemut, mit einem leichten Kribbeln im Bauch laufe ich kurz vor 10 dem Rathaus Schöneberg entgegen. Tempo, Tempo, der Betrieb auf dem Platz davor ist schon in vollem Gange: Auf dem Trödelmarkt hier in den Bücherkisten herumzustöbern ist seit Längerem schon mein Hauptvergnügen. Immer wieder finde ich Überraschendes. Letzten Herbst waren es Kataloge von DDR-Kunstausstellungen aus den 50er Jahren; man sieht, dass der stalinistische Realismus selbst damals keine so große Rolle spielte, wie manche es heute behaupten. Neulich, passend zu seinem hundertsten Geburtstag, Fühmanns Spuk. Aus den Erzählungen des Polizeileutnants K., noch aus seiner staatstreuen Zeit; ich hatte das Bändchen schon länger gesucht, wollte dafür aber keine zehn oder zwölf Euro ausgeben – hier kostete es nur zwei. Und zuletzt: den Ergänzungsband zum Barsortiments-Lagerkatalog 1941/42, einem Gesamtverzeichnis lieferbarer Bücher.
Man muss ihn vorsichtig behandeln, diesen Katalog vom November ’42: Der Buchblock ist gebrochen, die Seiten sind an den Rändern braun und brüchig geworden – er war nicht für die Ewigkeit gedacht. Die beiden Herausgeber waren führend im Buch-Großhandel, kauften also von den Verlagen, lieferten an die Läden. Auf gut 200 Seiten sind etwa 5000 Druckwerke verzeichnet, Neuerscheinungen tragen einen *. Man bekommt damit einen Überblick über die Produktion der Branche, Tendenzen werden deutlich, auch wenn sich der Charakter der sogenannten schöngeistigen Literatur nicht immer aus dem Titel erschließt.
Hitlerdeutschland hatte Ende 1942 den Gipfel seiner Macht schon überschritten: Zwar lag die Front im Osten noch in weiter Ferne, doch die Katastrophe von Stalingrad bahnte sich bereits an, und seit dem Frühjahr hatte das Hinterland zunehmend unter alliierten Bomberangriffen zu leiden. Der Krieg veränderte den Alltag mehr und mehr, und er beherrschte auch den Buchmarkt. Zum einen war Heldisches gefragt, von wem, ist allerdings schwer zu sagen. Flakartillerie greift an, Panzer am Balkan, Wir tragen den Tod übers Meer, Seemacht Deutschland. Wiederaufstieg, Kampf und Sieg, Polizei im Protektorat, Frontgeist und Heimatseele … es waren – geschätzt – einige hundert Titel dieser Art damals im Angebot. Gern zog man gegen die Feindstaaten vom Leder, Moskau ohne Maske, USA ohne Scham, Zeugen gegen England von Alexander bis Woolton, man unterstützte die Verbündeten, Japan. Tradition und Gegenwart, So kämpfte Finnland, und ließ Kollaborateure wie Jef Hinderdael mit dem Bekenntnis So fand ich zu Deutschland oder Alfred Fabre-Luce mit seinem französischen Tagebuch zu Wort kommen. Kriegsbedingt waren zudem Bücher wie Dänisch auf Baustellen oder das deutsch-russische Forstwörterbuch und wahrscheinlich auch die Anleitung Das Eiserne Sparen und seine Vorteile.
Goebbels wusste aber: Mit Heroismus allein war das Volk nicht bei der Stange zu halten, es brauchte Entspannung, brauchte das Heitere, Humoristische oder Besinnliche. Auch daran war kein Mangel, es gab Bohns fröhliche Bücher, es gab die Lustige-Bücher-Reihe, und Wilhelm Pleyers Gurkenbaum, dessen Früchte, wie Klemperer in LTI schreibt, aus sehr platten sogenannten Humoresken bestanden, war ebenfalls Jahrgang 41/42. Lebenshilfe bot Unser Tag. Sprüche zum Tageslauf, Ausgebombte konnten sich trösten mit Wohnen nach dem Kriege. Preisgekrönte und ausgewählte Entwürfe zu dem neuen städtischen Wohnhaus nach dem Führererlaß zur Vorbereitung des deutschen Wohnungsbaues nach dem Kriege.
Daneben erschien noch vielerlei vom Nazigeist Durchsetztes: Historisches, Rassenkundliches, Volksgemeinschaftliches, es erschienen Fachbücher aller Art, nur eine Sparte, in der die Bücher heutzutage dutzendweise auf den Markt kommen, spielte fast überhaupt keine Rolle – das Kochbuch. Auf den ersten hundert Seiten habe ich lediglich zwei angezeigt gefunden: ein Pilzkochbuch und Die Feldküchengerichte. Nach dem Original-Feldkochbuch des OKW.
Erstaunlich war, dass ein derart defaitistisches Buch wie Dino Buzzatis Im vergessenen Fort, das in den achtziger Jahren unter dem Titel Die Tatarenwüste noch einmal bei Reclam in Leipzig herauskam, zu Kriegszeiten überhaupt veröffentlicht werden konnte. Denn in diesem Fort vertut ein Offizier sein ganzes Leben im Warten auf einen Feind, von dem man nicht einmal weiß, ob er überhaupt existiert. Ein paar Seiten weiter bin ich auf einen zweiten mir bekannten Autor gestoßen: Wolf Durian. In Robber und Ich war im wilden Westen, die ich beide einst gelesen habe, verbinden sich, wie es im DDR-Schriftstellerlexikon von 1975 heißt, „genaue ethnographische Schilderungen und ein feines tierpsychologisches Verständnis mit erregenden Erlebnisberichten“. Solch ein Bericht war vielleicht auch Infanterieregiment Großdeutschland greift an; in besagtem Lexikon werden zwar zwei Jugendbücher aus den Jahren nach 1933 erwähnt, dieses aber fehlt. Dass man in der Bundesrepublik mit der Nazivergangenheit von Autoren oft sehr rücksichtsvoll umgegangen ist, verwundert nicht; von der DDR hätte man anderes erwartet.
Etwas habe ich durch diesen Katalog auch dazugelernt: Ich hatte immer gedacht, der Maisanbau sei auf Drängen Chrustschows eingeführt worden, doch schon 1941 erschien im Reichsnährstandsverlag Deutscher Mais. Erfahrungen und Anregungen. Er muss aber wohl als Fremder empfunden worden sein, sonst hätte man sein Deutschtum nicht so betont. Vor Rätsel gestellt hat mich der Titel Vergnüglicher Stellungswechsel, mit ca. 150 Zeichnungen. Aber es geht da, wie ich dann bei ZVAB gesehen habe, um Heiteres aus dem Heeresleben.
Von den Verlagen aus jener Zeit hat kaum einer die Jahrzehnte überdauert, viele sind mit dem Ende des 3. Reichs verschwunden, andere in den Jahren danach. Was aber von der im Lande geschriebenen und veröffentlichten Literatur der frühen Vierziger oder dieser Epoche insgesamt geblieben ist, diese Frage ist schwer zu beantworten. Es war alles in allem eine Literatur, die – auf die eine oder andere Weise – Anpassung an inhumane Verhältnisse förderte. Dennoch – oder grade deswegen? – wurden Hans Leip, Agnes Miegel, Ina Seidel, alle drei vor ’45 viel gedruckt und hoch geehrt, im Westen weiterhin gern gelesen und für schulbuchtauglich gehalten. Zwar hat sich, hierzulande zumindest, der größere Teil der Schreibenden auch zu anderen Zeiten mit seinem Werk den Herrschenden anzuschmiegen gesucht, im Nazireich aber war es geradezu die Regel. Als Ausnahme wären auf alle Fälle Friedo Lampes Septembergewitter und Am Rande der Nacht zu nennen. Lampe hatte erst nach 1933 begonnen, Prosa zu veröffentlichen; Am Rande der Nacht wurde jedoch bald nach Erscheinen verboten, Septembergewitter fand so gut wie keine Beachtung, und er selbst, einer der wenigen literarisch bedeutsamen deutschen Autoren, die damals nicht emigriert sind, ist den allermeisten ein Unbekannter geblieben.
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