Als das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen vom 3. November 2020 mit 306 Wahlmännern und -frauen für den Demokraten Joe Biden gegenüber 232 für den damaligen republikanischen Präsidenten Donald Trump feststand, wurde das in den meisten Staaten dieser Welt sicherlich mit einer gewissen Erleichterung registriert, konnte man doch die Hoffnung haben, dass die USA in der Gestaltung ihrer Außenpolitik wieder berechenbarer werden. Obwohl man nicht verkennen durfte, dass auch Joe Biden die Interessen seines Landes über alles stellte, erhoffte man sich doch, möglicherweise aufgrund des gepflegteren Auftretens, auch ein sensibleres Herangehen an die Probleme unserer Zeit. Dass die parlamentarische Basis des neuen Präsidenten in beiden Kammern des Kongresses fragil war, wurde in der öffentlichen Wahrnehmung des Wahlergebnisses jedoch mit weniger Aufmerksamkeit bedacht. Sofern das auf die Verbündeten der USA zutrifft, kann ein Grund für das Ignorieren dieser Tatsache darin gesehen werden, dass ein politisch starkes Oberhaupt der westlichen Führungsmacht in den jeweiligen Hauptstädten dringend herbeigesehnt wurde, nachdem sich Amtsvorgänger Donald Trump auf alle Fälle in dieser Hinsicht als Fehlbesetzung erwiesen hatte.
Mit der Erstürmung des Washingtoner Kapitols durch wütende Trump-Anhänger am 6. Januar 2020 wurde aber deutlich, dass es Joe Biden künftig nicht nur mit den Abgeordneten des republikanischen, also des gegnerischen politischen Lagers zu tun haben wird, sondern auch mit zunehmendem Gegenwind in breiten Kreisen der amerikanischen Gesellschaft. Welche langfristigen Auswirkungen dieses unrühmliche Ereignis haben wird, war damals noch nicht im Detail vorhersehbar. Heute lässt sich jedoch mit Sicherheit sagen, dass Donald Trump auch in der Außenpolitik der USA noch nachwirkt.
Das geschieht nun zwar nicht durch aktives Mittun, vielmehr durch die vom jetzigen Präsidenten verspürte Notwendigkeit, sich der Unterstützung eines Teils der republikanischen Abgeordneten zu versichern, um nicht vorzeitig zu scheitern. Hier liegt es nun in der Natur der Sache, dass, bedingt auch durch das hochgradig polarisierende Zwei-Parteien-Wahlsystem, innenpolitische Themen weniger zum Schulterschluss geeignet sind als Angelegenheiten der Weltpolitik. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass sowohl die Demokraten als auch die Republikaner vor 1990 das sozialistische Lager gleichermaßen als den größten ernstzunehmenden Feind betrachtet haben und diese Sichtweise heutzutage gemeinsam gegenüber Russland huldigen. Leichte Nuancierung zwischen den beiden Parteien sind dabei von untergeordneter Bedeutung. Heftig geführte Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Abgeordneten dienen sicherlich vor allem der Eigenprofilierung gegenüber den Wählern, denn nach der Wahl ist vor der Wahl.
Doch was folgt daraus? Wenn also Präsident Biden eine breitere Basis für seine Pläne anstrebt, kann er diese am ehesten erlangen, wenn er in der Außenpolitik die gewohnten Feindbilder bedient, und das auf eine Art und Weise, der sich auch die Republikaner nicht entziehen können. Es wird dies einer der Gründe dafür sein, dass das amerikanische Staatsoberhaupt in der aktuellen Krise um die Ukraine immer aggressivere Töne anschlug, nahezu täglich über einen unmittelbar bevorstehenden Einmarsch Russlands in die Ukraine dozierte und stetig Soldaten und Waffen in die osteuropäischen NATO-Länder schickte, gleichzeitig aber von Russland forderte, Maßnahmen zur Deeskalation der Situation zu unternehmen, insbesondere durch den Rückzug der auf dem eigenen Territorium befindlichen russischen Truppen nahe der ukrainischen Grenze. Im Falle der Nichterfüllung der amerikanischen beziehungsweise westlichen Forderungen wurde mit schwersten Sanktionen gegen Russland gedroht. Die Reihenfolge lautete also: Vorhersage eines bevorstehenden russischen Einmarschs in die Ukraine, in diesem Falle dann Sanktionen und nur eventuell noch Gespräche, um die vorhergesagte Entwicklung abwenden zu können.
Bedauerlicherweise hat die Entwicklung im Ukraine-Konflikt diesem Szenario weitgehend entsprochen, lediglich die Perspektive für Gespräche sind vorerst nahezu auf Null gefallen. Einige Staats- und Regierungschefs aus den NATO-Ländern dürften daran Gefallen finden, kann man doch somit den Ausbau der eigenen Militärpräsenz in den osteuropäischen Mitgliedsländern leichter begründen.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 kann natürlich mit keiner Begründung gerechtfertigt werden. Das steht außer Zweifel. Russlands Präsident Putin scheint sich in einer Parallelwelt zu befinden, die mit der Realität nichts mehr gemein hat. Man nennt das Realitätsverlust. Trotzdem müssen einige Fragen erlaubt sein. Vor allem die, ob der vom Westen bestrittene Weg der Sanktionen tatsächlich eine Wirkung erzielt hat. Offensichtlich nicht. Die Erkenntnis sollte also sein, dass weitere, als inzwischen „schwerste Sanktionen“ bezeichnete Maßnahmen keinen wirklichen Effekt erzielen werden. Es muss auch hinterfragt werden, ob der Westen mit seinen mantraartig wiederholten Unterstützungsbeteuerungen für die Ukraine sich selbst und vor allem diesem Land einen Gefallen getan hat. Man kann feststellen, dass die ukrainische Führung davon quasi eine Sicherheit für das Land abgeleitet hat, die seitens des Westens eher in Worten und auf dem Papier bestanden hat. Bestes Beispiel dafür ist die Erklärung des ukrainischen Präsidenten am Abend des ersten Kriegstages, dass die Bevölkerung des Landes nicht in Panik geraten solle und der Sieg gewiss sei. Auch hier kann man von Verkennung der Realität sprechen.
Aufschlussreich ist auch eine Erklärung von US-Präsident Biden am ersten Kriegstag, wonach es wie vorausgesagt gekommen sei. Bedeutet das, dass man die Ukraine sehenden Auges ins Unglück rennen ließ, um „höhere“ Ziele zu erreichen? Dem Westen wäre also das Schicksal der Ukraine egal, nur um Russland aus der Weltpolitik ausschalten zu können. Bauernopfer ist dafür ein gängiger Ausdruck.
Letztlich bleibt die Frage, was wäre passiert oder eben nicht passiert, wenn der Westen bereit gewesen wäre, mit Russland an einem Tisch über dessen Vorstellung und Bedenken hinsichtlich der eigenen Sicherheit zu sprechen, egal, wie unterschiedlich die jeweiligen Ausgangspositionen gewesen sein mögen. Könnte es sein, dass es dann keinen Krieg in der Ukraine gäbe? Leider wurde, wie in Deutschland passiert, selbst das Nachdenken über eine andere Herangehensweise „unter Strafe gestellt“. So musste im letzten Januar der Chef der Marine, Vizedmiral Schönbach, seinen Hut nehmen, nur weil er die Meinung vertrat, man müsse mit Putin „auf Augenhöhe“, will heißen ohne Vorbedingungen, über die russischen Sicherheitsbedenken sprechen.
Verhandlungen über eine echte Alternative, nämlich die Schaffung einer neuen, den veränderten Bedingungen in Europa entsprechenden Sicherheitsstruktur wurden Russland verweigert. Das Opfer ist die Ukraine, deren Sicherheit und Unabhängigkeit zu garantieren vom Westen offensichtlich zu leichtfertig versprochen wurde.
Größter Nutznießer innerhalb der NATO und der EU dürften zweifellos die USA sein, während deren europäischen Partner weitaus unmittelbarer die Folgen des Krieges, vor allem die Flüchtlingsströme, aber auch die langfristigen Folgen der Sanktionen zu tragen haben. Ob US-Präsident Joe Biden davon wesentlich in seinen Popularitätswerten profitieren kann, muss abgewartet werden. Sollte nämlich das Trump-Lager, vor allem der Ex-Präsident selbst seine „Begeisterung“ für Putins Vorgehen beibehalten, werden sich im Land zwischen New York und Los Angeles außenpolitische und innenpolitische Konflikt in einer Art und Weise vermischen und radikalisieren, wie es sich zu Joe Biden für seine Amtszeit garantiert nicht gewünscht hat. Donald Trump hat offensichtlich einen langen Schatten.
Der Autor war im DDR-Außenministerium tätig. Er lebt in Berlin.
Schlagwörter: Joe Biden, Stefan Pfüller, Trump-Lager, Ukraine-Konflikt, USA