Opernregisseure unterliegen bei der Auseinandersetzung mit älteren Werken oft einem tragischen Irrtum. Deren Stoffe sind häufig Sagenhaftes, Mythologisches, Menschlich-Urgründiges, vieldeutige Erfahrungen aus den „dunklen Jahrhunderten“. Das macht offensichtlich Lust, der „Bedeutung des Mythos im Hier und Jetzt“ – so formuliert es die Komische Oper Berlin – nachzuspüren. Das kann man machen, wenn man es kann. Man sollte dann einen Essay schreiben.
Ignoriert man nun, dass bereits das „Schöpferteam“ Librettist und Komponist seine Lesart vorgelegt hat und versucht, den zitierten höchst theorieaffinen Ansatz als Regiearbeit einer vorliegenden Oper umzusetzen, verhebt man sich mit Sicherheit. Hat man dabei das Glück, mit einem guten Ensemble arbeiten zu dürfen, kommt man einigermaßen unbeschädigt über den Schlussapplaus. Ein genügsames Publikum, wie es seit längerem die Berliner Premieren dominiert, beschert einem dann noch die Illusion des Gelingens.
Genau das widerfuhr jetzt Damiano Michieletto mit Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ an der Komischen Oper Berlin. Glücklicherweise entschied sich Michieletto für die Wiener Fassung aus dem Jahre 1762. In der späteren „Pariser“ spielt der Tanz eine noch größere Rolle. Und – das sei hier vorausgeschickt – der hat es in den Berliner Häusern seit der Zerschlagung der drei Operncompagnien als integraler Inszenierungsbestandteil höllisch schwer. Häufig wird an diesen Stellen die Partitur zusammengestrichen – oder der berühmte Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist wirklich nur ein kleiner pas de danse.
Das „Hier und Heute“ Damiano Michielettos ist zunächst eine Ehehölle à la Ingmar Bergmann. Dem Orfeo (Carlo Vistoli) und der Euridice (Nadja Mchantaf) kam die Liebe abhanden. Euridice ist zutiefst frustriert. Der mit einem Zauberstab herumfuchtelnde Amore (Josefine Mindus) reicht ihr anstelle des mythologischen Schlangenbisses ein Messer. Sie sticht damit nicht in Richtung Orfeo, der mit dem Koffer in der Hand schon seinen Abgang beginnt, sondern schneidet sich die Pulsadern auf. Jedenfalls liegt sie mit verbundenen Unterarmen auf einem Klinikbett und stirbt offenbar. Ganz so sicher ist das nicht … Orfeo verzweifelt jedenfalls librettogerecht, raubt einem Krankenhauswachmann die Pistole und will sich erschießen. Amore – die schwedische Sopranistin Mindus kann weder sängerisch noch darstellerisch in dieser Partie so recht überzeugen – greift ein und bietet dem Verzweifelten den bekannten Deal mit der Reise in die Unterwelt an.
Der Countertenor Carlo Vistoli übernimmt mit der Arie „Chiamo il mio ben così“ („So klag ich ihren Tod“) die musikalische Herrschaft des Abends und gibt sie bis zum auch hier grandiosen Schlusschor „Trionfi amore“ (Vocalcosort Berlin) nicht wieder ab. Nadja Mchantaf (Sopran) hat es schwer, sich gegen diesen überragenden Künstler zu behaupten. Aber ihr Ringen um die Aufmerksamkeit des Geliebten beim Gang aus der Unterwelt fesselt. Die Geschichte ist bekannt.
Der Orpheus des Mythos vergeigt die Sache. Gluck und sein Librettist Ranieri de’ Calzabigi fanden jedoch ein lieto fine, ein gutes Ende. Das ist nun nicht das happy end der verkitschten Neuzeit – den beiden ging es um das Setzen von Hoffnung als humanen Gegenentwurf beim ewigen Ringen zwischen Liebe und Tod in einem absolut nicht hoffnungsfrohen Jahrhundert. Gott Amor jedenfalls lässt sich von Orfeos zweitem Klagegesang erweichen – „Che farò senza Euridice?“ („Ach, ich habe sie verloren“) ist auch in der Interpretation Vistolis der Höhepunkt der Oper. Amore verhindert den zweiten Selbstmordversuch mit der gleichen Pistole des gleichen Wachmannes und holt Euridice zurück in die Welt der Lebenden.
Gluck hatte hier nicht zufällig eine große Ballett-Szene eingebaut. Bei Michieletto verkommt die zu einem gestelzten Spiel von vier (!) Euridicen mit der Asche der Titelheldin, die eine von ihnen aus einer Urne kippt. Terpsichore, die Muse des Tanzes, hat sich beim Schlussapplaus mit einem kleinen Scherz gerächt. Die Bühnenschräge des Hauses an der Behrenstraße kann verdammt rutschig sein …
Die Schlussszene jedenfalls wird wieder auf Anfang gespult. Der „Triumph“ der Liebe ist in dieser Inszenierung musikalisch überwältigend. Dramaturgisch ist er unglaubwürdig. In der Lesart Damiano Michielettos werden die beiden einander wieder verlieren. Aber vielleicht spielen Mchantaf und Vistoli einfach nur miserabel.
Gründlicher kann man Gluck kaum missverstehen.
Aprospos spielen. Während sich das von David Bates geleitete Orchester über die Ouvertüre noch hinwegquält, ist es mit Beginn des 1. Aktes ganz da und bleibt auf der gefundenen Höhe bis zum letzten Takt. Bewundernswert, die Partitur hat es durchaus in sich. Nur absolute Puristen werden sich daran stören, dass die Bates’sche Instrumentierung nicht ganz derjenigen Glucks entspricht.
Ein Opernabend, der durchaus Freude bereitet – aber auch zum Streit einlädt. Einen ganz anderen Umgang mit dem Stoff kann man ab 16. April erleben: Barrie Koskys Inszenierung von Claudio Monteverdis „Orpheus“ („L’Orfeo“) aus dem Jahre 1607 steht dann wieder auf dem Spielplan des Hauses.
Wieder am 6.2., 12.2., 25.2., 3.3. und 3.7.2022.
Schlagwörter: Christoph Willibald Gluck, Glück, Komische Oper Berlin, Orfeo ed Euridice, Orpheus und Eurydike, Wolfgang Brauer