25. Jahrgang | Nummer 3 | 31. Januar 2022

Über Sigrid Damm

von Ulrike Wendt

Mein Thema war von Anfang an die Rückgewinnung der Individualität.“ Dies sagt Sigrid Damm, die herausragende Biografin. Sie sagt es zu Ulrich Kaufmann, der die Autorin über Jahrzehnte immer wieder in Gesprächen zu ihrer Arbeit befragt und somit kontinuierlich begleitet hat. Diese Gespräche und einige weitere Texte sowie eine Reihe von Essays der Autorin finden sich in dem von Kaufmann herausgegebenen Buch: „Sigrid Damm, Gespräche und Texte über Werk und Weggefährten“.

Kaufmann schreibt ganz zu Beginn des Buches: „Der Band stellt das Werk Sigrid Damms vor.“ Tatsächlich gewinnt der Leser mit jedem Text einen weiteren Einblick in mindestens eines ihrer Werke. Die Lektüre ist nicht nur interessant, sondern fesselnd, was durch die nicht zu langen Texte von Kaufmann in sorgfältig abgestimmter und aufgebauter Sequenz befördert wird. Auch die Fotos tragen ihren Teil dazu bei.

So kommt das Buch zunächst wie eine Textsammlung daher, wie eine Präsentation des Lebenswerkes der Autorin in Einzelteilen, in Stücken, in Mosaiksteinen, die sich in lockerer Folge, einander ergänzend aufreihen. Man könnte verführt sein, sich aus dem Inhaltsverzeichnis einzelne Kapitel herauszupicken, vielleicht zunächst über „Christiane und Goethe“ zu lesen oder über „Ich bin nicht Ottilie“.

Ein solches Vorgehen aber wäre sehr schade. In der kontinuierlichen Lektüre erschließt sich nämlich alsbald das Werk der Autorin vielfältig, vernetzt und auf zahllosen Ebenen. Aus den präsentierten Mosaiksteinen ergibt sich ein Zusammenklang, es entstehen immer neue Einblicke.

Es ist, als würde man von Ulrich Kaufmann auf eine Wanderung mitgenommen, die hier und da ganz neue, unerwartete Ausblicke zulässt. Diese aber hängen an dem individuellen Verständnis des Lesers. Sie können, sollen und dürfen, so empfinde ich es, durchaus unterschiedlich sein. Und diese Wanderung führt nicht nur durch das Werk, sondern sie führt durch das Leben von Sigrid Damm. Die Seite 348 des Buches ist mit der Überschrift „Biografie Sigrid Damm“ versehen. In großer Bescheidenheit bringt Kaufmann diesen Begriff hier ganz am Ende ein. Dennoch möchte ich sagen, dass mir das Buch eine Biografie Damms ist. Kann man denn bei einer Autorin, deren Leben so ganz erfüllt von der Literatur, vom Schreiben ist, Biografie und Werk überhaupt trennen?

So ist Kaufmanns Wanderung kein Flaniergang, sondern ein aufs Interessanteste gestalteter, individueller, geästelter Weg, der Damms eigenem Anspruch auf vorsichtige, umfassende Annäherung an die Individualität der mit einem Text betrachteten Person gerecht wird.

Ein solches Ergebnis ist nur möglich, weil Damm und Kaufmann über lange Zeit den intensiven Austausch gepflegt haben, weil eine gewachsene Beziehung, eine Entwicklung dem Ganzen die Seele ergibt, an der der Leser teilhaben darf.

Mich persönlich hat eine Botschaft ganz besonders berührt:

Der Versuch, in der Biografieforschung Verhältnisse auf einfache Strukturen herunterzubrechen, kann nicht gelingen. Ich lerne von Sigrid Damm, wie über die intensive Recherche und das akribische Sammeln auch der scheinbar unwichtigsten Quellen, wie auch durch das Aufsuchen der Orte des Geschehens ein umfassendes Bild entstehen kann, eines, das der beforschten Person immer näher kommt, das auch ihre Widersprüche zeigt und damit frei von maskenhaften Idealisierungen bleibt. Das gefällt mir.

Sigrid Damm wird auf Seite 251 des Buches wie folgt von Kaufmann zitiert, als sie von Goethe spricht: „Man muss ihn nur vom Sockel herunter auf Augenhöhe holen.“

Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie habe ich in meinem Berufsalltag zahllose Lebensgeschichten von Patienten gehört und mit ihnen erarbeitet. Es ging dabei nicht nur um die persönlichen Biografien meiner Patienten, sondern auch um die ihrer Eltern, ihrer Familien, um die Bedeutung von Lücken, von Löchern und von Lügen. Aus meiner umfangreichen Erfahrung kann ich sagen: Mit der Recherche werden Lebensgeschichten lebendig, Umstände plastisch, und so werden Menschen wahr und Zusammenhänge erinnert. Die Suche nach den tatsächlichen Menschen, nach der wirklichen Welt hat uns etwas zu sagen. Etwas, das von Bedeutung ist und das nicht vergessen werden darf. Die singulären, die weichenstellenden Entwicklungen erschließen sich nur aus ihrer jeweiligen Wirklichkeit und ihrer Widersprüchlichkeit heraus. Das gilt auch und vielleicht sogar speziell für Menschen, die im Licht der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stehen oder gestanden haben.

Es geht also bei der plastischen Biografierecherche Sigrid Damms nicht mehr um das panoptisch-museale Bild einer vergangenen Welt, sondern am Ende um uns, um das, was auch uns im Hier und Jetzt betrifft.

Und so sind wir beim dritten und meines Erachtens wichtigsten Aspekt des Buches angekommen: Neben dem Werk und der Biografie Damms geht es um ihre philosophisch-psychologische Vorgehensweise und Wertewelt.

Kaufmann hat ein umfassendes, vielschichtiges, unbedingt weiterzuempfehlendes Werk vorgelegt.

Ulrich Kaufmann (Hrsg.): Sigrid Damm – Gespräche und Texte über Werk und Weggefährten, Quintus-Verlag Berlin 2021, 351 Seiten, 26,00 Euro.

Dr. Ulrike Wendt, Jahrgang ’57, ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Sie lebt in Oldenburg.