25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Ein neuer Blick auf Barlach

von Mathias Iven

Im Rostocker Rathaus trafen sich im November 2019 ein gutes Dutzend Fachleute, um über die Relevanz der Werke des Bildhauers, Grafikers und Schriftstellers Ernst Barlach (1870–1938) zu diskutieren. Hervorgegangen aus dieser Tagung ist der äußerst anregende Band „Barlach revisited“, der nicht nur Eingeweihten zu empfehlen ist. Ausgangspunkt für die Überlegungen der Teilnehmenden war die unstrittige Tatsache, dass Barlachs Werke, „seine sprachlichen und plastischen Figuren noch immer durch ihre frappierende Aktualität“ berühren, dass sie jedoch „in Wissenschaft, Kunst und Kultur höchstens eine Nebenrolle“ spielen und somit keinen „Referenzpunkt in den Diskursen unserer Gegenwart“ darstellen. Warum das so ist? Vielleicht weil sich Werk und Person Barlachs einer eindeutigen Zuordnung oder Klassifizierung entziehen: „Er war weder künstlerisch noch politisch Vertreter von etwas, verwahrte sich jeglicher Zuschreibungen und Vereinnahmungen. Vielmehr erarbeitete er sich und vertrat eigene, zuweilen eigenwillige, immer aber selbstständige Positionen.“

Die „mangelnde Anbindung an ästhetische und kulturpolitische Debatten und das allmähliche Verschwinden seines Werks“ führt Christina Dongowski vor allem auf die im Biografischen verhaftete bisherige Barlach-Forschung zurück. Sie kreise „weiterhin ums Existenziell-Menschliche – wenn sie sich nicht auf die konservatorische und archivalische Arbeit für die Erhaltung und Dokumentation seines Werkes konzentriert“. Sich um das Werk konservatorisch zu kümmern, ist das Gebot der Stunde. „Das ist die wirklich wichtige kunsthistorische Arbeit – das Werk für die Nachwelt erhalten.“ Doch was, fragt Dongowski, wenn sich die Nachwelt gar nicht dafür interessiert?

Erschwerend kommt bei diesen Bemühungen hinzu, so Sebastian Giesen, dass die vier im norddeutschen Raum angesiedelten, mit Pflege und Bewahrung von Barlachs Werk befassten Institutionen – Hamburg, Wedel, Ratzeburg und Güstrow sowie die drei dahinterstehenden Organisationen –, „um die Deutungshoheit“ ringen und Interessierten ihr je eigenes Barlach-Bild präsentieren. Giesen sieht in diesem Zusammenhang zwei unterschiedlich starke Lager, „die sich recht unversöhnlich gegenüberstehen“. Da seien zum einen die Vertreter des „monolithischen Barlach-Bildes“, die ihn als „beziehungslosen Einzelgänger“ sehen, „der alles aus sich selbst heraus schafft“. Zum anderen gebe es ein „relativiertes Barlach-Bild, das den Künstler in seiner Zeit und den Strömungen seiner Zeit verortet“. – Eine Annäherung würde sicherlich beiden Seiten zu mehr Akzeptanz verhelfen.

Wenn es ums Biografische geht, darf die Betrachtung eines Werkes nicht fehlen: Gemeint ist Barlachs 1928 im Verlag von Paul Cassirer veröffentlichte Autobiografie „Ein selbsterzähltes Leben“ – „eines der Prunkstücke moderner Autobiografie“, wie Holger Helbig betont. Analysiert man die Struktur des Textes, dann trete „das Zusammenspiel von Text und Bild, von Textteil und Tafelteil“ zutage, „das der von Barlach konzipierten Ausgabe zugrunde“ liegt. Helbigs Untersuchung zeigt, dass „alle späteren Ausgaben […], indem sie dieses Konstruktionsprinzip unberücksichtigt ließen, im Grunde unbrauchbar“ sind. Wenn man sich also Barlach über diesen immer noch sehr lesenswerten Text nähern möchte, sollte man unter allen Umständen auf die Erstausgabe zurückgreifen. „Alle anderen Ausgaben“ hält Helbig für „untauglich“, sie „verfälschen das Werk [und damit Barlachs Intention] bis zur Unkenntlichkeit“.

Um die „ambivalente Beziehung Barlachs zu seiner Wahlheimat Güstrow“ geht es in dem Beitrag von Franziska Hell. Barlach, der sich am 1. Oktober 1910 offiziell als Bürger Güstrows registrieren ließ, hatte die Stadt zwei Jahre zuvor das erste Mal besucht. Seit März 1908 lebte dort sein jüngerer Bruder Nikolaus, ein halbes Jahr darauf war auch Louise Barlach, die Mutter der beiden, in die mecklenburgische Kleinstadt gezogen.

Noch ganz unter dem Eindruck seines Studienaufenthaltes in der Villa Romana in Florenz urteilte Barlach im November 1909: „Güstrow kann sich sehr wohl neben eine toskanische Stadt stellen.“ Dieser Eindruck sollte indes mehr und mehr verblassen. Wiederholt trug er sich in den folgenden Jahren mit dem Gedanken, der Stadt den Rücken zu kehren. Doch am Ende kam er nicht von ihr los. So erklärte er dem Historiker Karl Weimann: „Ich werde wohl Güstrow nicht verlassen, jeder Besuch außerhalb überzeugt mich wieder von der Unmündigkeit, anderwo die Freiheit, ich meine die einfache persönliche Ungeschorenheit zu finden, die bei mir zur Arbeit unerläßlich ist.“

Neue „Fluchtgedanken“ kamen auf, als er seine spätere Lebensgefährtin Marga Böhmer kennenlernte, in deren Haus am Inselsee er seit September 1928 wohnte. Gemeinsam wollten sie die Stadt verlassen und den Harz zu ihrer neuen Heimat machen. Auch der Plan zerschlug sich. Nur noch selten verließ Barlach in diesen Jahren sein Refugium. Seinen späteren Nachlassverwalter Friedrich Schult ließ er wissen: „Güstrow ist mir ein ganz fremder Ort geworden, ich traue mich nur hin, um notgedrungen dies und das zu kaufen.“

Bei all der Abneigung, stellt Franziska Hell fest, „besaß die Stadt für den Künstler dennoch einige feste Bezugspunkte, die für ihn ein Leben lang eine wichtige Rolle spielten“. Dazu gehörten neben verschiedenen Persönlichkeiten vor allem Örtlichkeiten wie der Güstrower Dom, die Gertrudenkapelle oder auch der Bahnhof, den Barlach regelmäßig aufsuchte, um sich über Neuigkeiten zu informieren. All das diente ihm als Inspirationsquelle sowohl für sein graphisches als auch für sein literarisches Werk. „Der Eindruck bleibt jedoch bestehen“, fasst Hell zusammen, „dass der Bildhauer nie wirklich in der Kleinstadt angekommen war, wenn auch er hier die Abgeschiedenheit und Isolation vom hektischen Kunstbetrieb der Großstädte Berlin und Hamburg fand, derer er für seine Arbeit und sein persönliches Leben bedurfte.“

Anknüpfend an diese Darstellung liefert der Beitrag von Magdalena Schulz-Ohm erstmals einen umfassenden Überblick zur Baugeschichte von Barlachs 1930 am Güstrower Inselsee errichtetem Atelierhaus. Zwei Jahrzehnte lang hatte der Bildhauer zunächst eine alte Töpferwerkstatt, später einen ehemaligen Pferdestall und dann eine Autowerkstatt als Arbeitsräume genutzt. Vielerlei Umstände führten dazu, dass sich der 60-Jährige schließlich zum Bau eines eigenen Ateliers entschloss. Finanziert werden konnte das Ganze nur durch den ihm von Ludwig Katzenellenbogen, dem zweiten Mann von Tilla Durieux, erteilten Auftrag zum „Fries der Lauschenden“ und eine Bürgschaft des Galeristen Alfred Flechtheim.

Im April 1930 legte Adolf Kegebein, der seit 1924 als selbstständiger Architekt in seiner Heimatstadt Güstrow wirkte, Barlach einen ersten Entwurf vor. Möglicherweise ließ er sich dabei durch das kurz zuvor fertiggestellte, vom Schweizer Architekten Ernst Rentsch und dem Bauhaus-Schüler Paul Linder entworfene Anwesen Georg Kolbes in Berlin inspirieren. Nachdem die Pläne im gegenseitigen Einvernehmen konkretisiert worden waren, wurde Kegebein am 1. August 1930 offiziell mit „Entwurf und Bauleitung für den Neubau eines Atelier- und Wohnhauses“ betraut. Die Ausführung der Arbeiten übernahm der lokale Bauunternehmer Willi Feine. Bereits am 8. November konnte Richtfest gefeiert werden, abgeschlossen waren die Bauarbeiten am 7. Mai 1931, die Kosten für das Haus beliefen sich auf 72.160,50 Reichsmark.

Zwar nutzte Barlach trotz der laufenden Bauarbeiten bereits seit Ende Februar 1931 seine neuen Atelierräume, ansonsten lebte er weiterhin in dem unmittelbar daneben liegenden Haus seiner Lebensgefährtin Marga Böhmer. Der Neubau wurde, wie er seinem Freund und Verleger Reinhard Piper mitteilte, zeitweise von seinem 1906 geborenen Sohn Nikolaus „und, für gewöhnlich, [von] Frl. Doege“ bewohnt – von 1921 bis 1933 Barlachs Haushälterin. Ab dem Sommer 1933 wurden die Wohnräume an Böhmers geschiedenen Ehemann und dessen zweite Frau vermietet.

Wie von Franziska Hell dargestellt, nahm die Entfremdung Barlachs gegenüber seiner Wahlheimat zu. Die insgesamt schwierigen Lebensverhältnisse und die zunehmenden Repressalien, denen er sich zu Beginn der Dreißigerjahre ausgesetzt sah, veranlassten ihn und Marga Böhmer, über den Verkauf ihrer beiden Häuser nachzudenken. Im Juli 1938 schrieb er an Hugo Körtzinger: „Mein großes Anwesen ist eine Quelle endloser Verdrüsse […] Was soll ich noch mit einem großen Atelier, in dem ich selbst ein Fremdling geworden? […] das Ende der Heidbergherrlichkeit [ist] gekommen […]. Es war […] ein Schein guter behäbiger Dinge, weiter nichts, ein Schein, ein Trug.“ – Ein Vierteljahr später verstarb Barlach, ohne sein Anwesen veräußert zu haben.

Die Herausgeber dieses gewichtigen Sammelbandes äußern „die Hoffnung, dass die hier versammelten Aufsätze im Ergebnis dazu beitragen, der Rezeption Barlachs neuen Schwung zu verleihen“.

Paul Onasch, Karoline Lemke, Holger Helbig (Hrsg.): Barlach Revisited. Eine kritische Bestandsaufnahme, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 326 Seiten, 29,90 Euro.