25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Karol Sauerlands Tagebuch

von Holger Politt

In Polen kennen und schätzen ihn immer noch viele, immerhin brachte der Germanistikprofessor bereits in Zeiten der VR Polen die Rezeption von illustren Denkern wie Dilthey, Adorno oder Benjamin tüchtig voran. Auch in Deutschland ist er in einschlägigen Kreisen alles andere denn ein Geheimtipp, dennoch bedarf es mitweilen und so auch hier der kurzen Vorstellung.

Karol Sauerland wurde 1936 in Moskau als Kind deutscher Eltern geboren, überzeugte Kommunisten die beiden, die bald nach dem Reichstagsbrand aus der Heimat geflohen waren. Vater Kurt Sauerland war nach 1929 Chefredakteur beim Roten Aufbau gewesen, hatte sich zunächst nach Paris abgesetzt. Später dort vor die Entscheidung gestellt, wohin weiterziehen, entschied er sich für Moskau – nicht für die USA, wie ihm Karl August Wittfogel als besorgter Freund ans Herz gelegt hatte. 1937 wurde Kurt Sauerland verhaftet, im März 1938 zum Tode verurteilt und erschossen. Die Witwe lebte viele Jahre in der Annahme, es habe eine Verurteilung zu 25 Jahren Lager gegeben, sie werde ihren Mann wiedersehen. Erst Chrustschows Geheimrede 1956 hatte ihr die Augen geöffnet.

Nach dem Kriegsende war die Mutter zusammen mit dem Sohn nach Deutschland zurückgekehrt, in die Sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR. Karol Sauerland nahm an der Humboldt-Universität ein Philosophie-Studium auf, das unruhige Jahr 1956 warf überall seine Schatten. Im Spätsommer nahm er an einer FDJ-Reise nach Polen teil – Warschau, Kraków und Zakopane standen auf dem Programm. Er verliebte sich in eine Polin, lernte Polnisch. Im Januar 1957 war er erneut in Warschau, privat, ihn interessierten politisch vor allem die Entwicklungen nach dem polnischen Oktober. 1957 gab er das Studium in Berlin auf, ging im Herbst halbwegs freiwillig ins Kabelwerk Oberspree. Die Entscheidung seines Lebens fiel rasch: Seine künftige Ehefrau, die ihre Eltern während der deutschen Okkupation verloren hatte, lehnte entschieden ab, unter die Deutschen zu ziehen, also blieb nur der umgekehrte Weg. Vergleichsweise schnell bekam Sauerland die polnische Staatsbürgerschaft: „Wahrscheinlich war ich der erste Deutsche, der sich um diese Staatsbürgerschaft nach dem Krieg bemüht hatte, ohne jemals etwas mit Polen zu tun gehabt zu haben.“

Er fand sich nun hineingeworfen in einen gleichermaßen eigenartigen wie faszinierenden geistig-kulturellen Kosmos, Sauerland schlug die Laufbahn eines Germanisten ein. Bereits in den 60er Jahren bekam er Angebote westdeutscher Verlage, übersetzte Bronisław Baczko und Kołakowski. 1967/68 weilte er zehn Monate lang mit einem polnischen Stipendium in der DDR, in Berlin, um die Dissertation zu Dilthey zu schreiben. 1975 habilitierte er sich zu Adornos Ästhetik des Nichtidentischen.

Nun legte Sauerland im letzten Jahr im Neisse Verlag in Dresden längere Auszüge seines in Deutsch geschriebenen Tagebuchs aus der Zeit von 1980 bis 1991 vor, das sich der strikten Chronologie der Ereignisse verweigert, einen stark reflektierenden Charakter trägt. Rückblickend hatte er im Juli 1981 notiert: „1956 war ich der Überzeugung, nur eine Demokratisierung der Partei könne den Sozialismus glaubwürdig machen. Damals wäre ich vor Freude an die Decke gesprungen, wenn sich das ereignet hätte, was jetzt geschehen ist. Heute sehe ich das unerhörte Dilemma, das mit der Alleinherrschaft einer Partei verbunden ist. Die höhere Stufe des Sozialismus wäre eine Selbstverwaltung auf allen Ebenen. 1956 war ich für Selbstverwaltung, aber ich sah nicht, wie gering der Spielraum wäre, wenn man die zentrale bürokratische Macht belässt.“ Sauerland selbst nennt sich einen engagierten Beobachter, was tiefgestapelt ist, denn natürlich stand er damals eindeutig auf Seiten der „Solidarność“-Bewegung, war selbst in deren akademischen Strukturen stärker involviert und versteckte nach der Verhängung des Kriegsrechts sogar die frischgeschriebenen Tagebuchseiten, weil er mit Hausdurchsuchungen und ähnlichen Schikanen rechnen musste.

Neben diesem ganz eigenen Blick auf das für die Entwicklung Polens und der benachbarten sozialistischen Länder so wichtige Geschehen in den 80er Jahren, der alleine bereits die aufmerksame Lektüre lohnt, bestechen Nuancen, wie sie wohl nur ein Tagebuchschreiber mit diesem biographischen Hintergrund bemerken und notieren konnte: „Peter Weiss ist verstorben (schon vor einem Monat); ich wollte ihm wegen seines Satzes ‚Die Solidarność ist antikommunistisch‘ einen offenen Brief schreiben. Er schien nur global (antikapitalistisch) denken zu können.“ Oder eine Notiz im März 1981 zu Benjamin: „Beendete das Benjaminreferat für Poznań. Es ist die Frucht längerer Überlegungen. Der heutige Zustand hat mir weitere Klarheit in Einsichten gebracht, die Benjamin wahrscheinlich gehabt hat. Über den historischen Augenblick erhalten wir blitzartig eine Klarheit, verursacht durch den gegenwärtigen.“

Und es gibt die wunderbar nüchtern klingenden Notizen zu den Deutschen in dieser aufgewühlten Zeit, im März 1981 etwa zur DDR: „Sprach mit einem DDR-Lektor aus Leipzig, der mir erklärte, die DDR-Bevölkerung unterstütze Polen nicht, sie bezahle zu viel für diese Unordnung hier, sogar in Devisen. – Es gehört ja zu unserem System, dass jedes realsozialistische Land überzeugt ist, es erhalte die Nachbarn, zahle für sie.“ Oder im Mai 1982, bereits unter den Bedingungen des Kriegsrechts: „Empfang der Westdeutschen aus Anlass der Buchmesse. Die bundesdeutschen Aussteller verstehen von der jetzigen Situation so gut wie gar nichts.“

Wie für heute geschrieben scheint aber jener Eintrag vom Mai 1982: „Die Studenten scheinen meiner Vorlesung über die Revolutionstheorien und in die Revolution im deutschen Drama so langsam besser zu folgen. Sie reagieren lebhafter. Luxemburg kam am besten weg. Danach erzählte mir A. Ch., dass Rosa Luxemburg vor kurzem im Fernsehen vorgeworfen wurde, sie habe die polnische Frage negiert, habe alles auf Internationalismus gesetzt. Die Polemik gegen sie sei sehr übel gewesen. Ich hatte in der Vorlesung gesagt, von allen Revolutionstheorien sei die ihrige für Polen die beste, diejenige, von der man viel übernehmen könnte.“

Dem Tagebuch jedenfalls ist der aufgeschlossene Leser zu wünschen, der tatsächlich reichhaltig belohnt wird, wenn er die kritische Elle nicht beiseitelegt, um sich mit dem Verfasser zu messen, der seine Stiche und Hiebe bedacht wie entschieden zu setzen wusste.

Karol Sauerland: Tagebuch eines engagierten Beobachters, Neisse Verlag, Dresden 2021, 585 Seiten, 28,00 Euro.