25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Die Kunst zu merkeln

von F.-B. Habel

Nachdem sie mehr oder minder belächelte Ministerin unter Bundeskanzler Kohl war, gewann Angela Merkel Profil, als sie zunächst Generalsekretärin der CDU, dann Vorsitzende wurde, und als Bundeskanzlerin kam sie ihrem Ziehvater Kohl in Ausdauer nahe und hatte Adenauer längst überboten. Für Kabarettisten wie für Karikaturisten war sie immer ein dankbares Objekt. Als genialer Merkel-Zeichner galt schon der Österreicher Dieter Zehentmayer, der in seinen letzten Lebensjahren zur Berliner Zeitung gekommen war und leider in dem Jahr starb, als die Merkel die Regierung übernahm.

Auch der bei Stuttgart aufgewachsene Klaus Stuttmann, den sein Kunstgeschichtsstudium mit zwanzig Jahren 1970 nach Westberlin führte und der seine Zeichner-Laufbahn bei Sponti-Blättern begann, erkannte in den neunziger Jahren Merkels Potential. Seit damals hat er knapp 900 meist originelle Zeichnungen geschaffen, die nicht nur im Tagesspiegel und bei Eulenspiegel und Freitag in Berlin, sondern unter anderem auch in sächsischen, badischen und rheinischen Zeitungen erschienen sind. Schon vor einigen Jahren hatte er zu einem Jubiläum „Mein Merkelbilderbuch“ zusammengestellt, das er 2021 erweitert hat.

Zunächst: Es lohnt sich, die originellen Ideen und Situationen zu verfolgen, die Stuttmann für die Merkel gefunden hat. Natürlich hat er auch die Genese ihrer Frisur begleitet. In frühen Jahren sieht sie manchmal noch aus wie Claudia Roth oder Matthias Sammer, als er noch eine kurze Mähne trug. Für ihre Partei machte sie die Putzfrau, schwamm gegen den Strom und stellte sich Messerwerfern entgegen. Die Mutti macht Wäsche, saugt Staub und legt zeternde Riesenbabys trocken, bis Gerhard Schröder den Tanz mit ihr wagen will. Mit ihrer Kanzlerschaft beginnen nicht nur die Kämpfe mit Koalitionspartnern, sie betritt auch die Weltbühne. Hat sich George Bush wirklich in sie verliebt? Und sie sich in den Dalai Lama? War sie wirklich froh, für Parteifreundin Vera Lengsfeld ein Vorbild zu sein? Was hat sie mit dem armen kleinen Sarkozy gemacht? Wieso verwandelt sie sich in Pippi Langstrumpf?

Viele Fragen müssen offen bleiben, deren Beantwortung – zumindest mit Stuttmanns Worten – amüsant gewesen wäre. Was war der Grund, dass Merkel sich – zumindest in der Karikatur – 2012 in Marx verwandelte? Hat sie tatsächlich den legendären „Charlie Hebdo“ zu Boden geschlagen und warum? Es gibt wirklich witzige Lösungen, doch der alte Fuchs Stuttmann fordert seine Leser respektive Betrachter nicht nur zum Blättern und sich zu Erinnern auf. Sie sollen auch recherchieren. Löblich, aber vielleicht doch etwas anstrengend! Denn der Karikaturist hat das Buch mit dem Untertitel „Ohne Worte“ versehen und ließ tatsächlich keiner der Zeichnungen das, womit sie zu ihrer Zeit veröffentlicht wurden. Von seinen alten Karikaturen (außer auf dargestellten Plakaten, Spruchbändern u. ä.) entfernte er alle Worte. Keine Sprechblasen, keine Bildunterschriften. Gerade sie hätten den intellektuellen Reiz dieses Bandes vermittelt. Im Vorwort schreibt Stuttmann: „Auf einmal entdeckt man eine riesige Vielfalt an ungeahnten Charakterzügen, unterschiedlichen Emotionen und einen Facettenreichtum an Gesichtsausdrücken und Körperhaltungen. Sie besitzt ein enormes Repertoire an schauspielerischen Fähigkeiten, kann ganz lieb sein, grimmig, böse, verheult, euphorisch, jammernd und zeternd.“

Und Stuttmann hat das alles erfasst! Kein Zweifel, er ist sehr stolz auf seine Arbeit. Das sollen die Käufer seines Buches nachvollziehen und bewundern. Aber ohne die witzigen Texte (die man eigentlich aus Stuttmanns Arbeiten kennt) ist es nur das halbe Vergnügen, l’art pour l’art!

Zwar gibt es für fast jedes Jahr der Merkel-Ära einen sehr kurzen Überblick auf die damaligen Geschehnisse. Von den meisten Politikern wird allerdings nur der Familienname aufgeführt. Was waren das für Leute? Zum Beispiel: Wer war 2006 ein gewisser Müller? Wahrscheinlich niemand aus dem Berliner Senat. Kann sich noch jemand an einen Mappus erinnern? In welchem Verhältnis standen diese Menschen zu Angela Merkel? Da braucht man schon einen tüchtigen Lockdown, um so etwas zu recherchieren!

Der Zeichner verweist am Schluss auf seine Homepage, auf der man alle Merkel-Zeichnungen seit 2003 wiederfinden kann. Vermutlich mit Bildunterschriften. Das Buch brauchen dann nur noch Leute, die nicht netz-affin sind. Aber schließlich ist das Internet laut Merkel für uns Neuland. Daher ist das Buch für Merkel & Co. dann doch gut!

Klaus Stuttmann: Mein Merkelbilderbuch, Schaltzeit Verlag, Berlin 2021, 200 Seiten, Berlin 2021, 24,90 Euro.