24. Jahrgang | Nummer 26 | 20. Dezember 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Berlin Berlin“ – Admiralspalast; „Schöne Bescherungen“ – Komödie am Kurfürstendamm im Schillertheater; „Reden über Sex“ – Schaubühne; „Noch einen Augenblick“ – Renaissance-Theater.

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Der Orchestergraben hochgefahren. Tische, Stühle, Kellner wuseln, der Saal altgolden-tiefrot schimmernd: Willkommen im Admiralspalast! Willkommen im Club Golden Twenties! Und los geht’s auf eine Zeitreise zurück ins Berlin der ersten Republik, hinein in eine Show, deren Titel viel verspricht und doch schon alles sagt: „Berlin Berlin“.

Zunächst jedoch herrscht unerwartet Stille. Ein Licht fällt auf den Vorhang, und zart wie aus weiter Ferne leiert gleich einem Grammofon ganz ohne Marsch-Getöse die Hauptstadt-Hymne „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft…“ Dann reißt der Vorhang: Wir sind mittendrin beim ekstatischen, längst vom Mythos umrauschten Tanz auf dem Vulkan im Twenties-Club auf der Admiralsbühne gegenüber Station Friedrichstraße – im Hintergrund ein witziges Filmchen: Die gute alte Dampflok schleppt Fernzüge über die Bahnhofsbrücke. In Gegenrichtung saust die S-Bahn.

Apropos Vulkan. Seinem tosenden Ausbruch entsprechen die Ideen für die zauberisch sich verwandelnden, im Art Deco gestylten Szenenbilder von Conny Kraus (Revuetreppen, Lichtpunktornamente, Thonet-Stühle, Flügel, Video). Und die Ideen für geradezu poetisch pointierte oder aber sarkastische, freche, rotzige Texte (Christoph Biermeier), die der mit Mund und Beinen rasende Conférencier (Simon Stockinger) mit gewagten Hüftschwüngen herausschleudert. Daneben die Choreos von Matt Cole fürs akrobatisch-rhythmisch perfekte, farbenfroh von Katia Convents kostümierte Sexy-Ballett – dem herrlich rasenden Herz, das den Puls prägt einer jeden Revue. Dazu der Sound (Gary Hickeson) fürs Berlin Berlin-Orchestra (Leitung Rich Morris). Und natürlich die schauspielenden, singenden, tanzenden, tobenden Solisten.

Das alles: vulkanesk! So hätte man vor hundert Jahren wohl gesagt im Jargon der Zeit. Wahrlich, diese grandiose, geistreiche Show schüttet einem Füllhorn gleich Fantastisches aus für Auge, Ohr, Verstand und Gemüt – sowie geschickt ineinander verwobene Geschichten der an Geschichte und nicht nur kulturellen Innovationen so reichen Reichshauptstadt.

Vieles, was (teils bis heute noch) die Stadt und gar den Erdkreis erschüttert und eine neue Urbanität verkörperte, tritt da an im pittoresken Kaleidoskop: Anita Berber (Jil Clesse), die Baker (Dominique Jackson), die Dietrich (Lena Müller), Brecht mit Kurt Weill und Mackie Messer, Josef von Sternberg, Charles Lindbergh, die Comedian Harmonists – und schließlich ein früher, früh gefährlicher Hakenkreuzler mit NS- und AfD-Gebrüll. Ein gewagter, ein düsterer Moment fürs Entertainment, und doch schwer beeindruckend. Wer auch wollte den Blick abwenden davon, was dem Goldenen folgte: das Braune. Die Vertreibung und Ermordung der meisten Künstler und Künstlerinnen, der so faszinierenden Stars.

Ein dickes Bravo also dem Riesenkollektiv der Erfinder und Macher aller Arten und Gewerke von Script, Bau, Film, Licht bis Ton, Technik, Dramaturgie. Sie haben alles richtig gemacht. Auch, dass von den Schatten, der Not und den Krisen, also davon, was nicht golden glänzte, unaufdringlich, aber doch unüberhörbar die Rede ist.

Mithin eine runde Sache. Über und über bestickt mit funkelnden Perlen aus dem reichen Repertoire klassischer Ohrwürmer („Mein kleiner grüner Kaktus“). Ein intelligenter Mix aus Laut und Leise, Licht und Dunkel, Tempo, Tempo und Innehalten. Aus verrücktem Mitmachspaß fürs Publikum (Lachfoxtrott mit Sebastian Prange), packenden Soli („Ich bin von Kopf bis Fuß“) und Ensemblenummern („Im Weißen Rössl am Wolfgangsee“). Ein raffiniert abgeschmeckter Cocktail aus lokalem Amüsemang und weltläufigem Entertainment. Regie: Christoph Biermeier.

Man möchte meinen, der Kulturkritiker und Berlin-Flaneur der 1920er, der große Alfred Kerr, habe dem Geist dieses mitreißenden Abends die Stichworte gegeben. – Er schrieb einst in einem seiner „Plauderbriefe“ über die inmitten des „Weltkuddelmuddels“ explodierende Metropole an eine ostpreußische Tageszeitung: „Für einen Deutschen, der in einem großen europäischen Mittelpunkt weilen möchte, der für gewisse Geistesströmungen Nahrung sucht, der in einer Stadt leben will, die ein Weltzentrum für alte und moderne Bewegungen darstellt, die ein jugendstarkes Ringen zukunftsfroher Kräfte, ein Werden, Wachsen, Blühen an allen Ecken und Enden zeigt – für einen solchen Deutschen wird Berlin die Stadt sein.“

Läuft bis zum 2. Januar 2022. Danach in Hannover, Düsseldorf, Bremen, Köln, Frankfurt/Main, Stuttgart, Hamburg, München.

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Mit den Alle-Jahre-wieder-Klassikern ist es alle Jahre wieder so eine vertrackte Sache: Die einen sind ganz scharf auf „Dinner for One“ und können schon mitspielen daheim vorm Fernseher, die anderen stöhnen auf. So ähnlich ergeht es Alan Ayckbourns Christmas-Schwank „Schöne Bescherungen“ – auch diesmal auf dem Gabentisch der Kudamm-Komödie.

Zwar lauern schon längst keine Überraschungen mehr in diesem routiniert gestrickten Festtags-Chaos einer sich gegenseitig auf den Keks gehenden englischen Kleinbürgersippe von vor gut vier Jahrzehnten, doch mit einem prima aufgelegten, von Regisseur Folke Braband perfekt auf Irrwitz eingespielten Ensemble schaut man der flotten Ausbreitung gängiger Lebenslügen und familienüblicher Entfremdungen gerne zu. Die beiden Höhepunkte: die mitternächtliche Slapstickiade eines albernen sexuellen Unfalls unterm prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaum sowie das wirklich hinreißende, anrührend komisch missratene Puppenspiel mit Fuchs und Förster und den drei süßen kleinen rosa Schweinchen.

Fürs Vorweihnachtliche: Noch bis zum 28. Dezember. Für Silvester: „Dinner for One“ live performt vom Hexenberg-Ensemble im Pfefferberg-Theater, Schönhauser Allee, 16.30, 18.00, 19.30, 23.00 Uhr.

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Typisch urbanes, auf- oder abgeklärtes Feierabendgeflüster einer locker verabredeten Gruppe esoterisch angehauchter Mittvierziger in einem Berliner Studio für Yoga oder Feldenkrais oder ähnliches. Drei Männer und drei Frauen reden zunächst stockend, dann zunehmend flüssiger und offenherziger darüber, was ihnen Spaß macht beim Sex oder was der Lust entgegensteht. Anders gesagt: Es geht in dieser einem üblichen Stuhlkreis ähnelnden, wie zufällig zusammengewürfelten, sich monatlich treffenden Runde „um sexuell bedeutsame Erlebnisse“. Man wolle frei werden, „um seine Sexualität zu umarmen“, so die Ansage.

Es ist also eine Art Talkshow oder Wellness-Seelenstrip, verfasst von Schaubühnen-Dramaturgin Maja Zade, einer erprobten, von mir sonderlich verehrten Meisterin für Konversationsstücke.

Zur Sprache kommen, ganz ohne Peinlichkeiten bei immerhin allgemein nur schwer Sagbarem, schmerzhafte Vulva-Verkleinerungen, religiös motivierte, seltsame Praktiken von schwulem Sex vor der Männer-Ehe, das Elend mit zu kleinen oder zu großen, das Glück mit beschnittenen oder unbeschnittenen Penissen, erotische Anwandlungen einer mütterlichen Schlaganfall-Patientin gegenüber ihrem Sohn, der nicht immer einfache Einsatz von Fetisch, Dildo, Nippelklemmen, Analverkehr oder Petting, der luststeigernde Strahl von Urin, die weibliche Lusthemmung, wenn der Gatte die Schwester der Gattin liebt – so in etwa.

Da lauscht man gespannt. Da wird man noch im fortgeschrittenen Alter ein bisschen aufgeklärt bezüglich diverser Details. Und erfährt obendrein einiges über unterschiedlichste Lebenswelten, erlebt entsprechende Figurenskizzen.

Apropos Skizzen. Man mag da ordentlich Tiefgang, schwelende Tragödie, existenzielle Krisen vermissen, all das, was in früheren Zade-Werken unerwartet stark aufploppte; etwa in der Feminismus-Groteske „Status quo“ oder dem Familiendrama „Abgrund“.

Ist hier nicht der Fall. Hier wird gleichsam lässig in einem Notizbuch geblättert. Motto: Was es alles so gibt, was so passieren kann im erotisch-sexuellen Alltags- oder Sonntagsbetrieb. Das Publikum spitzt die Ohren, erschrickt zuweilen oder lächelt verständnisinnig. Lacht sogar lauthals auf. Regisseur Marius von Mayenburg sorgt für flüssigen Durchlauf der anekdotisch aufgeschriebenen Rede-Nummern; freilich mit Momenten des Innehaltens, wenn gewisse Ängste, Glücksfantasien oder die Not der Einsamkeitskälte zur Sprache kommen. – Hier die Namen des bravourösen Ensembles: Robert Beyer, Carolin Haupt, Jenny König, Genija Rykova, Konrad Singer, Lukas Turtur.

Und zur Entspannung zwischendurch beim Wechsel der Themen gibt’s feine Gesangseinlagen mit passenden Popsongs von Wrong, Dido’s Lament oder Depeche Mode. Und natürlich „Relax“, die alte Sex-Hymne von Frankie Goes to Hollywood.

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Eine schöne Frau, nicht mehr ganz jung, erfolgreiche Schauspielerin (Susanna Simon), wird umschwärmt von einem jungen Wissenschaftler und einem älteren Herrn. Der eine (Moritz Carl Winklmayr) geht ihr – auch wenn‘s schmeichelt – mächtig auf die Nerven. Der andere, ein ruhmreicher Stückeschreiber (Max Schneider), bittet sie händeringend, doch nicht ohne lüsternes Augenrollen, dass der Star des Pariser Boulevards in seinem neuen Werk, es ist das einundzwanzigste, die Hauptpartie spielt: nämlich Madame Dubarry, Luxus-Mätresse König Ludwigs XV. – eine Bombenrolle.

Doch Madame Suzanne sträubt sich wie verrückt, sie will nicht mehr auf die Bühne, nicht mehr in den Beruf, seit ihr Ehemann tödlich verunglückte. Die Liebe der beiden war derart innig, ihr berufliches Verhältnis derart eng, dass Julien noch jetzt, nach gut einem Jahr, immerzu anwesend scheint, und Suzanne alles, was ihr geschieht, mit ihm bespricht. Und weil wir im Theater sind, im Renaissance-Theater nämlich, tritt der längst Gestorbene (Max Urlacher) leibhaftig auf als ständiger Berater und spitzzüngiger Kommentator. Ein Kniff, der es dem französischen Autor Fabrice Roger-Lacan ermöglicht, eine Konversationskomödie unter Dreien zu erfinden. Dass dabei der übertrieben tapsig angelegte Jungspund der Geowissenschaften als Blödel-Nebenrolle beiseitegeschoben wird – eigentlich schade.

In „Noch einen Augenblick“ konzentriert man sich also auf die Rededuelle zwischen den beiden Männern sowie der zwar charmanten, doch eben störrischen, aber wiederum hochsensiblen Diva, die nach schwerem Schicksalsschlag psychisch wie erstarrt scheint. Sie hat Angst vorm Loslassen, vor einem Aufbruch ins Neue, wird geplagt von Unsicherheit und Mutlosigkeit. Erstaunlich, aber doch dem Leben abgelauscht ist es, dass (natürlich) auch ruhmreiche Erfolgsmenschen ausgebremst werden durch traumatische Erschütterungen wie den plötzlichen Tod ihres Lebensmenschen.

Eine ernste Sache also, eine Depression, die da als Generalbass immerzu mittönt in diesem Schlagabtausch gegensätzlicher Absichten, Ansichten und Meinungen, der allerdings indirekt zur Überlebenshilfe wird für Suzanne, die um ihrer Zukunft willen einen schweren Vorhang beiseiteschieben muss. Ob sie denn wirklich schiebt, wird nicht verraten. – Nebenbei liefert der zwischen Ironie und Sarkasmus mäandernde Diskurs – Dubarry jetzt spielen oder womöglich nie mehr spielen – einige Schlaglichter auf die Besonderheiten des Theaterbetriebs.

Der immerhin höchst erfahrene Regisseur Guntbert Warns, einst Starschauspieler des abgewickelten Schillertheaters, befeuerte das Psycho-Parlando erstaunlicherweise eher halbherzig, wovon sich die großartige Susanna Simon freilich nicht irritieren ließ. Sie drehte beeindruckend auf zwischen Herz und Schmerz. Die beiden Herren – sonderlich der nervöse, doch eigentlich verwegene Drehbuchschreiber im muffigen Old-Opa-Outfit – blieben da, von der Regie vernachlässigt, ziemlich blass.

Dennoch: Man wünschte sich derartige Stücke beispielsweise im Hauptprogramm unserer abendlichen Fernsehprogramme, statt der immergleich düsteren Krimis. Gilt doch der von Wolfgang Kirchner pfiffig ins Deutsche übertragene Autor mit seinen Kammerspielen in Frankreich auch als ein klasse Fernseh-Unterhalter.