24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Flaubert in seinen Briefen

von Mathias Iven

Im März 1857 fasste Gustave Flaubert mit nur wenigen Sätzen seinen bisherigen Lebensweg zusammen: „Ich bin in einem Krankenhaus geboren (dem von Rouen – dessen Chefchirurg mein Vater war; er hat in seiner Kunst einen berühmten Namen hinterlassen) und ich bin aufgewachsen inmitten aller menschlichen Nöte – von denen mich eine Mauer trennte. Als kleines Kind spielte ich in einem Hörsaal. Vielleicht habe ich deshalb die düstere und zugleich zynische Art. Ich liebe das Leben ganz und gar nicht und ich habe überhaupt keine Angst vor dem Tod.“ Als er das schrieb, stand er in seinem 36. Lebensjahr. Wenige Wochen zuvor war vor der 6. Strafkammer des Tribunal Correctionnel de Paris über die „Unsittlichkeit“ und das Verbot eines Romans verhandelt worden, der ihn berühmt machen sollte: Madame Bovary.

Blick zurück. Bereits als Gymnasiast widmet sich Flaubert dem Schreiben. In einem Brief an seinen Freund Ernest Chevalier berichtet der Elfjährige davon, dass er ein „Stück anfangen werde, das den Titel Der geizige Liebhaber haben wird“, und er „werde auch eine Geschichte über Henri 4 über Louis 13 und Louis 14 anfangen“. Nach dem Abitur geht er nach Paris, wo er 1841 mit dem Jurastudium beginnt. Das Lernen wird ihm schnell zur Last. Seiner Schwester Caroline beichtet er: „Ich gehe zwar noch zu den Vorlesungen, aber ich höre nicht mehr zu, das ist verlorene Zeit.“ 1844 bricht er das Studium ab und geht nach Croisset, wo seine Eltern seit kurzem wohnen. Dort beendet er die in Paris begonnene erste Fassung seines Romans Die Erziehung der Gefühle (L’Éducation sentimentale). An seinen ehemaligen Mitschüler Alfred Le Poittevin schreibt er in diesen Monaten: „Das einzige Mittel, nicht unglücklich zu werden, ist in der Kunst, in Klausur zu gehen und auf alles Übrige nichts zu geben.“

Anfang des Jahres 1846 sterben kurz hintereinander sein Vater und seine Schwester. Im April lernt Flaubert die Dichterin Louise Colet kennen, mit der ihn eine langjährige, schwierige Liebesbeziehung verbinden wird. Die an sie gerichteten Briefe zeigen eine zerrissene, schwankende, scheinbar orientierungslose Persönlichkeit. Da heißt es beispielsweise: „Die jämmerliche Manie des Analysierens macht mich fertig. Ich zweifle an allem, selbst an meinem Zweifel.“ Flaubert ist unsicher, wie sich ihre Beziehung entwickeln wird. „Immer sage ich mir, dass ich Dein Unglück sein werde […], dass der Tag kommt, an dem wir uns trennen“. Und seine Bücher? „Ich arbeite“, gesteht er ihr, „mit totaler Absichtslosigkeit und ohne Hintergedanken, ohne weitere Planung.“

Er verlässt Croisset und begibt sich auf Reisen. Zusammen mit seinem Schriftstellerkollegen Maxime Du Camp ist er im Sommer 1847 in Frankreichs Norden unterwegs, ihr gemeinsam verfasster Reisebericht Par les champs et par les grèves (Über Felder und Strände) wird erst 1886 veröffentlicht. 1849 brechen die beiden zu einer zweijährigen Orientreise auf, die sie nach Ägypten, Palästina, Syrien, den Libanon, die Türkei, Griechenland und Italien führen wird. Zurück in Frankreich beginnt Flaubert mit der Arbeit an Madame Bovary. Doch im Sinn hat er eigentlich etwas anderes. Was er „machen möchte, das ist ein Buch über nichts, ein Buch, das an nichts Äußerem hängt, das sich durch die innere Kraft seines Stils von selbst hält […], ein Buch, das fast kein Thema hätte, oder in dem das Thema beinahe unsichtbar wäre, wenn das möglich ist.“ Kann man es damit – heute würde man sagen – in die Bestsellerlisten schaffen? Darum geht es ihm nicht, wie er im Juni 1852 an Maxime Du Camp schreibt: „Bekannt sein ist nicht mein wichtigstes Anliegen. […] Ich trachte nach Besserem, nämlich Freude. Der Erfolg scheint mir ein Resultat zu sein und nicht das Ziel.“

Am 15. Oktober 1856 beginnt in der Revue de Paris der Vorabdruck von Madame Bovary. Bis zum 1. Dezember erscheinen die sechs Folgen des Romans – und rufen die Staatsanwaltschaft auf den Plan. Ernest Pinard, der wenige Monate später auch im Prozess gegen Baudelaires Fleurs du Mal die Anklage vertreten wird, sieht in dem Buch einen „Verstoß gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion“. Zwei Wochen vor Prozessbeginn teilt Flaubert seiner heimlichen großen Liebe Élisa Schlésinger mit: „Wie in der Vergangenheit werde ich schreiben, um des bloßen Vergnügens des Schreibens willen, nur für mich, ohne irgendeinen Hintergedanken an Geld oder Aufsehen.“ Und gegenüber seinem Bruder Achille äußert er zwei Tage darauf: „Die Strafverfolgung hat mir tausend Sympathien eröffnet. Wenn mein Buch schlecht ist, wird sie dafür sorgen, es besser erscheinen zu lassen; wenn es dagegen von bleibendem Wert ist, wird sie zu einem Postament.“ – Die Klage wird abgewiesen. Flaubert, dessen Name jetzt in aller Munde ist, ist dennoch nicht glücklich. Am 11. Februar 1857, vier Tage nach seinem Freispruch, schreibt er an seinen Freund Frédéric Baudry: „Im Übrigen bin ich in einem finsteren Zustand. Die Bovary macht mich fertig! Wie ich es jetzt bedauere, sie veröffentlicht zu haben! Alle raten mir, ein paar kleine Korrekturen darin zu machen, aus Vorsicht, aus Anstand etc. Diese Aktion kommt mir jedoch als schlimme Feigheit vor, da ich offen gesagt nichts Tadelnswertes in meinem Buch sehe (unter dem Gesichtspunkt strengster Moral).“

Erneut geht Flaubert auf Reisen. In Tunesien und Algerien recherchiert er 1858 für seinen nächsten Roman. „Im Übrigen“, so fasst er seine Bemühungen im Februar 1859 zusammen, „habe ich etwas Unausführbares unternommen. Sei’s drum; wenn ich ein paar noble Schöngeister zum Träumen bringe, habe ich nicht meine Zeit verloren.“ Fast drei Jahre arbeitet er an Salammbô, im November 1862 liegt das Buch endlich vor. Ganze fünf Jahre wird er für sein nächstes Projekt aufwenden: die zweite Fassung der zwanzig Jahre zuvor abgeschlossenen L’Éducation sentimentale. „Seit einem Monat“, heißt es in einem Brief vom 6. Oktober 1864, „sitze ich jetzt an einem modernen Sittenroman, der in Paris spielen wird. Ich möchte die Moralgeschichte der Menschen meiner Generation schreiben; richtiger wäre die ,des Gefühls‘.“ Unter dem Datum des Briefes, den er am 16. Mai 1869 an Jules Duplan, den Bruder seines Anwalts, schreibt, findet sich der Zusatz: „4 Minuten vor 5 Uhr“ gefolgt von der befreienden Mitteilung: „FERTIG! mein Alter! – Ja, mein Schmöker ist fertig!“ Sehr zum Leidwesen von Flaubert verkauft sich das Buch jedoch schlecht. Dem von ihm verehrten Iwan Turgenjew vertraut er an: „Was mir auf der Seele liegt, ist die Pleite von L’Éducation sentimentale. Dass man dieses Buch nicht verstanden hat, will mir nicht in den Kopf.“

Schreiben hieß für Flaubert leben, doch zugleich kostete jedes neue Buch einen Teil seiner Lebenskraft. Ernest Feydeau, Schriftsteller und im selben Jahr wie Flaubert geboren, erklärte er das wie folgt: „Ein Buch ist eigentlich etwas Organisches, es ist ein Teil unserer selbst. Wir haben uns ein paar Eingeweide aus dem Bauch gerissen, die wir dem Bourgeois servieren.“

Berühmt. Missverstanden. Gedemütigt. – Vielleicht kann man versuchen, mit diesen drei Worten das Leben und Werk eines Schriftstellers zu umreißen, der am Ende seines Lebens schrieb: „Ich verlange, dass man mich vergisst, dass man mich in Ruhe lässt, dass man nie wieder über mich spricht! Meine Person wird mir zuwider! – Wann werde ich endlich krepiert sein, damit man sich nicht mehr mit mir beschäftigt.“

Dass wir diesen Großen der Weltliteratur jetzt auch in seinen Briefen erleben können, verdanken wir der Übersetzungsarbeit von Cornelia Hasting, die bereits Flauberts Briefwechsel mit Louise Colet (1995) und Guy de Maupassant (1997) herausgegeben hat. Zum 200. Geburtstag hat sie eine äußerst anregende Auswahl zusammengestellt, die Gustave Flaubert den deutschen Lesern einmal mehr näherbringt. Zu danken ist aber auch dem Züricher Dörlemann Verlag, der bereits 2016 mit der Publikation von Über Felder und Strände einen bedeutenden editorischen Beitrag geleistet hat – man kann nur hoffen, dass Weiteres bereits in Arbeit ist.

Gustave Flaubert: „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit“. Ausgewählte Briefe 1832–1880, zusammengestellt und aus dem Französischen übersetzt von Cornelia Hasting, Nachwort Rainer Moritz, Dörlemann Verlag, Zürich 2021, 320 Seiten, 27,00 Euro.