In Manchem ähneln sie sich, Sternaux’ Buch der Erinnerung und die Novembertage. Ein Hauch von Melancholie, ein wenig Traurigkeit, dünne Frühnebel und markante Strukturen.
Der Berliner Journalist, Schriftsteller und Dramaturg (1885–1938) mit dem weiten Herzen für die Stadt Potsdam nähert sich ihr an einem Spätsommertag, vom Bahnhof Wannsee kommend, auf einer Havelfahrt. Der Dampfer zieht an Kladow vorbei und an Sacrow. Auch an der Pfaueninsel: „Die Pfauen schreien nicht mehr, das Palmenhaus ist abgebrannt, leer stehen die Gebäude …“ Es ist die Stimmung, die der verheerende Erste Weltkrieg hinterließ und die drängte, sich der Zeit vor den Schreckensjahren zu erinnern, um sich an den zurückliegenden glanzvollen Tagen wieder aufzurichten. Ob es gelang?
In Potsdam sind die ersten Lichter angezündet. Der nachdenkliche Ausflügler geht durch Straßen, Gassen, dunkle Winkel, sucht am Kanal nach einem „literarischen“ Haus, das in Georg Hermanns Potsdamer Roman „Heinrich Schön jun.“ eine Rolle spielt und kehrt zurück zur Havel. Dort liegt der letzte Dampfer nach Wannsee. „Die Glocke bimmelt aufgeregt, eine Pfeife schrillt, schwerfällig gleitet der weiße Koloß in den Abend hinein, in schwarze Nacht.“
Sternaux liebt diese Stadt. Akribisch fächert er ihre Geschichte auf. Berichtet vom ersten Brückenschlag über die Havel, von den Burgen der Vergangenheit und dem Schlossbau. Von der Entwicklung zur Stadt und dem Fluch der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg. „Ein paar Wochen hatten vernichtet, was in hundert Jahren mühsam aufgebaut worden war, und in den Häusern Potsdams hockte […] dumpfe Verzweiflung, durch die menschenleeren Gassen irrte der Hunger.“ – Der Autor spricht auch über die glorreichen Zeiten von Kunst und Wissenschaft. Namen fallen: Friedrich Wilhelm Kurfürst von Brandenburg und der Preußenkönig Friedrich II. Beide ob ihrer Verdienste (gleich welcher Art) mit dem Beinamen „Der Große“ genannt.
Mit Sternaux erlebt man Sanssouci. Zur Einführung lässt er Zeilen aus Emanuel Geibels gleichnamigem Versepos anklingen: „Dies ist der Königspark. Rings Bäume, Blumen, Vasen! / Sieh, wie ins Muschelhorn die Steintritonen blasen! / Die Nymphe spiegelt klar sich in des Beckens Schoß. / Sieh hier der Flora Bild in hoher Rosen Mitten, / Die Laubengänge sieh, so regelrecht geschnitten, / Als wären’s Verse Boileaus!“ (Nicolas Boileau, französischer Lyriker)
Im Jahr 1740 – nach dem Tod des Vaters, dem Soldatenkönig – kommt der neue Regent Friedrich aus der heiteren Welt Rheinsbergs in das nüchterne Potsdam. Als Gegenpart zum Stadtschloss, wo ihn die Regierungsgeschäfte einholen, möchte er ein „Landhaus“ erbauen lassen, ebenerdig, um dem Draußen mit einem Schritt nahe zu sein. Den genialen Baumeister bringt Friedrich mit. Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff. Er schuf seinem jungen König ein gefälliges, ansehnliches, ländliches Schlösschen, entfernt an die modischen „ maisons de plaisance“ in Frankreich erinnernd, jedoch in ausgewogenem „deutschen Rokoko“.
Der Bau, insonderheit die vielstufige Terrassenanlage, bereitet Schwierigkeiten. Doch Friedrich wünscht Eile. 14. April 1745 Grundsteinlegung, 1. Mai 1747 Einweihung bei einer Tafelrunde mit 20 Gedecken im Marmorsaal. „Die Türen standen weit offen, seine Windspiele tollten draußen in der Frühlingssonne“ (Friedrich, der Hundefreund), „die Vögel in den Volieren zwitscherten, die weißen Pfauen schlugen Rad […] alles glänzte, alles strahlte – sans souci schien das Leben!“
Sternaux geht, wie es die Ordnung vorsieht, mit einer Führung durch die Räume. Er fühlt sich von den neugieren Besuchern und den monotonen Worten des Begleiters gestört. Nichts für einen Empfindsamen. Im Park, dem Wunderwerk der Gartenkunst, findet er zu Gelassenheit und innerer Ruhe zurück. Vorbei an Skulpturen, Schmuckvasen, Marmorbänken, Wasserspielen. –
Der Spaziergänger versäumt nicht, nach den Gräbern von Friedrichs geliebten Windspielen zu sehen, liest, sofern die verwitterten Inschriften es erlauben, einige Namen: Diane, Thisbe, Alcmene, Amourette, nur den Namen der zärtlichen kleinen Biche („Hirschkuh“) sucht er vergebens.
„Der trübe November 1918. In letztem welken Flor das Neue Palais. Der Park entblättert, tot die Wege zwischen den kahlen Bäumen. Weithin sichtbar verlaufen sie endlich in ungewissem Licht. Dort brodelt fern der Aufruhr.“ Für Sternaux bleiben es „schwarze Tage“, und er streift dem imposanten Schloss ein gespenstisches Gewand über. Elegisch beschreibt er den Abschied der letzten Kaiserin Auguste Viktoria von ihrer Dienerschaft im Muschelsaal.
Das Neue Palais, dieses Prunkschloss, ließ Friedrich II. nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges errichten. Ein kostspieliger Riesenbau. Welcher Kontrast zum luftigen, leichten Sanssouci am anderen Ende des Parkes. Der Autor besichtigt die Zimmerfluchten, Privatgemächer, Säle, Kammern, Staatsräume und die großzügigen Gästeunterkünfte. Überall herrscht kalte Leere. Ein Blick in das kostbare Rokokotheater. Auch hier weht „Grabesodem“. Ein „totes Museum“ meint Sternaux mit Wehmut. (Es sei gesagt, dass in das „tote Museum“ neues Leben eingezogen ist und das Theater in bekannter Schönheit erstrahlt)
Als der Erzähler „anno 19 an einem kalten Februartag“ das Potsdamer Stadtschloss betrat – bei weit offenen Türen und unbewacht – geriet er in ein lebhaftes Treiben und begriff es als „unwürdiges Schauspiel“. Der Magistrat hatte das Schloss übernommen, um Plünderungen und Zerstörungswut vorzubeugen. Und nun räumte man aus. Gemälde, wertvolle Möbel, Porzellane; Lüster wurden von der Decke genommen, Teppiche eingerollt und verschnürt, Kisten gefüllt und vernagelt. Mit jedem Hammerschlag zerbrach ein Stück Vergangenheit. – Für den Autor war es „eine traurige Wanderung durch eine Welt, die zerfiel.“
Ludwig Sternaux führt den Leser durch Potsdam, macht auf Stadtvillen aufmerksam, zeigt Palazzi und einfache Bürgerhäuser und erzählt ihre Geschichte. Und „immer wandert leise nebenher Melancholie“. Es bleibt nicht bei den Stadtansichten. Erinnerungen an Charlottenhof, Glienicke, Babelsberg und an die Pfaueninsel, deren ländlicher Charakter ihm besonders gefiel, teilt er mit, anregend zu einem Besuch.
Trotz Schatten, Nachtgetier und dunkler Träume ein lesenswerter, feingestimmter Blick zurück. Beigefügt sind: Das kenntnisreiche, einfühlsame Nachwort von Klaus Bellin; ein Verzeichnis Potsdamer Sehenswürdigkeiten und die Übereinstimmung von Straßennamen.
Ludwig Sternaux: Potsdam. Ein Buch der Erinnerung, Die Mark Brandenburg. Verlag für Regional- und Zeitgeschichte, Berlin, 2020, 244 Seiten, 18,00 Euro.
Schlagwörter: Klaus Bellin, Ludwig Sternaux, Potsdam, Renate Hoffmann