24. Jahrgang | Nummer 21 | 11. Oktober 2021

Kanzlereien

von Erhard Crome

Der erste Sozialdemokrat, der in Deutschland Kanzler wurde, hieß Scheidemann, der erste in der BRD Brandt. Ansonsten hießen deutsche Kanzler so, wie viele Leute in diesem Lande: Bauer, Müller, Schmidt, Schröder. Mit Schulz hat es nicht geklappt, aber jetzt wohl mit Scholz. Interessanterweise kamen die christdemokratischen Kanzler der BRD aus dem Rheinland (Adenauer), dem Fränkischen (Ludwig Erhard), Baden-Württemberg (Kiesinger) oder Rheinland-Pfalz (Helmut Kohl); Ausnahme war die Pfarrerstochter aus dem Osten. Während die sozialdemokratischen Kanzler aus dem Norden kamen. Insofern ist die jetzige Regierungsbildung nicht nur parteipolitisch, sondern auch geographisch interessant: Olaf Scholz kommt aus Osnabrück und hat seine politischen Sporen in Hamburg verdient, Robert Habeck aus Lübeck und Christian Lindner aus Wuppertal in NRW.

Nach der Bundestagswahl hatten zunächst alle relevanten Parteien mit allen Vorsondierungen geführt, jedenfalls zwischen Grünen und FDP, danach auch mit SPD und CDU/CSU, jeweils zu zweit, dann erklärten sich Grüne und FDP für gemeinsame Sondierungsgespräche mit der SPD. Parallele Sondierungen mit der CDU sollte es nicht geben. Damit waren die Weichen in Richtung einer „Ampel-Koalition“ gestellt.

Armin Laschet, der glücklose Kanzlerkandidat der Christdemokraten, gab am 7. Oktober 2021 eine eigenartige Pressekonferenz. Viele Beobachter hatten seinen Rücktritt erwartet. Er aber bekundete nochmals das Interesse der CDU an einer Regierungsbildung in Gestalt einer „Jamaika-Koalition“ – obwohl ihm Grüne und FDP gerade einen Korb gegeben hatten. Er erklärte, die CDU könne sich in der Regierung besser erneuern, als in der Opposition. Aber demütig werde sie die neue Rolle annehmen. Es wird ihr ohnehin nichts anderes übrig bleiben. Laschet redete von programmatischer Erneuerung der Christen-Union, gab aber nicht preis, worin diese bestehen solle. Sie solle sich auch personell erneuern, bis zur Spitze und zum Parteivorsitz. Dabei solle „die Basis“ gefragt werden. Wenigstens dies ist das Eingeständnis, dass seit dem Rücktritt von Angela Merkel vom Parteivorsitz 2018 bei den ständigen Auseinandersetzungen um den Vorsitz und dann 2021 um die Kanzlerkandidatur der CDU die Basis keine Rolle gespielt hat. Nun also soll sie gefragt werden. Alle Positionen stünden zur Disposition, bis zum Parteivorsitz. Diesen Prozess wolle er – Laschet – „moderieren“. Damit war seine Erklärung vom 7. Oktober in der Sache doch der Rückzug von der Spitze, aber er will die Zukunft gestalten.

Wenn also kein Wunder geschieht, weil die „Ampel“ scheitert, „Jamaika“ wieder hochkommt oder gar die Christdemokraten doch noch für eine „Große Koalition“, nun unter Scholz‘ Führung, gebraucht werden, wird das Kapitel Laschet zeitnah enden. Persönlich hat er sich „verzockt“, wie viele Medien-Beobachter meinen. Niemand hatte ihn gezwungen, wegen der Kanzlerkandidatur sein Amt als Ministerpräsident in NRW aufzugeben. Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber hatten nach ihren gescheiterten Kanzlerkandidaturen 1980 beziehungsweise 2002 ihr Amt als bayerischer Ministerpräsident noch jahrelang frohgemut weiter ausgeübt. Das hätte Laschet ebenfalls ohne Not tun können. Nun wird er wohl seine Tage als Hinterbänkler im Bundestag beschließen.

In vielen Kommentaren wird beklagt, dass die „Volksparteien“ SPD und CDU/CSU in ihrer Anziehungskraft für Wähler geschrumpft seien. Hier ist daran zu erinnern, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 durch den „Verrat“ der FDP an ihren Wahlzusagen von 1980 gestürzt wurde – da hatten SPD und CDU/CSU beide über 40 Prozent. 2021 hatten die Christdemokraten 24,1 Prozent der Zweitstimmen, die SPD 25,7 Prozent. Die Zeiten von Wahlergebnissen mit deutlich über 30 Prozent und mehr für die Gewinnerpartei scheinen vorbei. Gleichwohl liegt die SPD vor der CDU, mit fast 800.000 Zweitstimmen. Solche Partei-Konstellationen, wie sie Deutschland jetzt hat, sind in anderen europäischen Ländern seit Jahrzehnten üblich. Insofern war Deutschland mit Helmut Kohl und Angela Merkel eine Ausnahme. Angesichts der sechs Fraktionen im Bundestag und der Verschiebungen insbesondere zugunsten der Grünen war das zu erwarten.

Für absehbare Zeit scheint das mit den 30-Prozent-Parteien vorbei zu sein. Aber man konnte an der SPD sehen, dass „Wiederauferstehung“ auch in der Politik möglich ist. Eine Phase der Instabilität, wie teilweise im Ausland vermutet wird, entsteht dadurch nicht. Skandinavische Länder oder die Niederlande haben mit solchen Konstellationen seit Jahren handlungsfähige Regierungen. Entscheidend ist, dass die drei Parteien, die eine neue Bundesregierung bilden, einen tragfähigen Koalitionsvertrag mit klaren Zielen und Aufgaben vereinbaren, an den sie sich alle drei eine ganze Legislaturperiode halten und sich nicht in der Regierung gegenseitig auszutricksen versuchen.

Wenn es zur „Ampel“ kommt – Rot-Gelb-Grün – wird es sichtbare Veränderungen in der Klima-, Industrie- und Sozialpolitik geben, zugunsten der niederen Einkommensschichten, die während der Corona-Pandemie das Land am Laufen hielten, als die „Reichen und Schönen“ in ihren Villen hockten, wie einst zu Pestzeiten, und erwarteten, dass der Kelch an ihnen vorbeigeht. Die FDP wird zwar ihre Klientel bedienen wollen, aber da ihre Hauptakteure unbedingt mitregieren müssen, werden sie „Kröten schlucken“. Zumal es eine „Jamaika“-Alternative nur geben könnte, wenn auch die Grünen zur CDU überschwenken würden. Damit ist nicht zu rechnen.

Die FDP hat sich augenscheinlich seit 2017 stabilisiert, nachdem sie 2013 aus dem Bundestag geflogen war. Inwiefern das alles entschlossene FDP-Wähler waren oder ein Teil des bürgerlichen Klientels, das die Laschet-CDU nicht wollte, muss sich 2025 zeigen. Die AfD hat offenbar in der Tat eine eigene Stammwählerschaft. Diese Wähler „fehlen“ den anderen Parteien aber eher nicht, sie würden wahrscheinlich, wenn es die AfD nicht gäbe, nicht wählen. Insofern bildet der Bundestag im Unterschied zu den Zeiten vor 2017 die reale Bevölkerung eher ab, als früher. Dass es etwa zehn Prozent Wähler gibt, die rechte Parteien wählen würden, wenn es sie gäbe, ohne dass sie offen nazistisch sind, hatten Parteienforscher schon in der alten BRD vor 1990 festgestellt. Das hat sich im Osten durch die von der realexistierenden deutschen Einheit Enttäuschten erweitert.

Die Linke hat die Protestwähler aus der früheren DDR an die AfD verloren, erscheint nach „erfolgreicher“ Regierungstätigkeit auf Länderebene als eher etabliert und nur als eine Art zweite SPD. Diese Wähler sind offenbar nicht zurückzugewinnen. Insofern traf es die Linke wie die CDU, beide sind die hauptsächlichen Verlierer und sie spielen für die Kanzler-Frage sichtbar keine Rolle. Während die Ampel-Parteien als die Gewinner dastehen.