24. Jahrgang | Nummer 21 | 11. Oktober 2021

Erlesenes – Paula Modersohn-Becker, Otto Julius Bierbaum und ein Roman über das Sterben

von Wolfgang Brauer

2017 präsentierte das Hamburger Bucerius Kunst Forum „Paula Modersohn-Becker. Der Weg in die Moderne“. Kuratiert wurde die bemerkenswerte Schau von Uwe M. Schneede und Kathrin Baumstark. Schneede legte jetzt bei C. H. Beck eine Monographie mit dem scheinbar leicht abgewandelten Untertitel „Die Malerin, die in die Moderne aufbrach“ vor. Wenn der Autor 2017 die Künstlerin noch „zwischen zwei Künstlergenerationen“ verortete, sie gleichsam als Übergang positionierte, betrachtet er sie heute „als eine singuläre, letztlich in Paris anzusiedelnde Künstlerpersönlichkeit, als die Schöpferin einer neuen Ikonographie und als epochale Wegbereiterin der Moderne“. Letzteres ist ein wenig dick aufgetragen. Als „Wegbereiterin“ konnte sie – auch bedingt durch ihren frühen Tod, sie stirbt mit 31 Jahren 1907 an einer Embolie – kaum in Erscheinung treten. Nachhaltige Wirkung erfuhr ihr Werk eigentlich erst nach dem 2. Weltkrieg, auch wenn in den Jahren nach 1907 vor allem Otto Modersohn und Heinrich Vogeler durchaus mit Erfolg versuchten, ihr Werk einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren.

Der Autor belegt in seinem Buch eindrucksvoll die Entwicklung von Modersohn-Beckers sehr eigenem Stil. Letztendlich konzipiert sie eine ungewöhnliche künstlerische Welt „parallel zur Wirklichkeit“ – der Autor greift eine Formulierung der Kunstwissenschaftlerin Karin Schick auf – und gelangt damit zu einer Durchdringung letzterer, die auch aufgrund der gewählten malerischen Mittel der Künstlerin atemberaubend ist. Spätestens seit der großen Bremer Jubiläumsschau 2007 wissen wir, dass dieser Weg binnen weniger Jahre nur denkbar war durch die großen Eindrücke, die die Malerin in Paris erfahren konnte: Cézanne, der Zöllner Rousseau, Rodin und nicht zuletzt Paul Gauguin. Aber Uwe M. Schneede lässt diesen Weg für alle Kunstinteressierten nachvollziehbar werden, vermittelt manch überraschende Einblicke zum Beispiel in die Porträtkunst, die Kinderdarstellungen und die Zeichnungen Paulas. Auch wenn beim Nachdenken über Paula Modersohn-Becker am Ende immer wieder die Frage steht, was wäre wenn: Schneede zitiert am Schluss seines Buches das Postulat der Künstlerin aus dem Jahre 1902: „Eine üppige, neugebierende Kunst, die denkt nur an das Zukünftige“ – man sollte das Werk der Künstlerin als ein in der deutschen Kunstgeschichte sehr solitäres voller Demut vor ihrem Bemühen in sich aufnehmen. Es steht für sich. Und es ist gut, dass Uwe M. Schneede in seinem gut geschriebenen und vorzüglich gestalteten Buch auf jede Spekulation verzichtet.

Uwe M. Schneede: Paula Modersohn-Becker. Die Malerin, die in die Moderne aufbrach, C. H. Beck, München 2021, 240 Seiten, 29,95 Euro.

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Auch der Dichter, den ich Ihnen nun leidenschaftlich ans Herze – das ist jetzt sein Stil … – legen möchte, wurde nicht alt. Er hatte sich zu Tode geschuftet, wie Ernst von Wolzogen meinte, undstarb mit 45 Jahren 1910 im trüben Dresdener Winter. Dabei zog es ihn inniglich in das Land, wo die Zitronen blühen und ein besserer Wein wächst als in Grünberg in Schlesien, wo er das Licht der Welt erblickte. Seine zweite Frau war Italienerin. Und gleich dem Erfinder von „Mignons Lied“ – ich habe den soeben zitiert – machte er eine italienische Reise und diese zu einem Buch und wurde damit zum Begründer der Autoreiseliteratur. Immerhin überquerte er als Erster in einem Automobil den St. Gotthardt. Fairerweise muss man einräumen, er und Gattin Gemma ließen sich in einem nebst Fahrer vom August Scherl Verlag bezahlten Adler-Automobil kutschieren. Auch sein in diesem Zusammenhang kreiertes Reisemotto „Lerne reisen, ohne zu rasen!“ ist bei den 8 (acht!) PS, die den „Adler-Phaëton“ bewegten, leicht erklärlich. Der Mann hasste die Eisenbahn. Der Titel „Italienische Reise“ war aber prominent besetzt, also nannte er sein Buch „Eine empfindsame Reise im Automobil“ – und jetzt werden manche wissen, von wem die Rede ist: Otto Julius Bierbaum.

Andere werden aufmerken, wenn ich einen weiteren Titel nenne: „Zäpfel Kerns Abenteuer“. Bierbaum hatte aus Carlo Collodis märchenhaft-rätselhaftem Holzkopf Pinocchio einen nicht minder holzköpfigen deutschen Kasper gemacht, indem der die poetische Geschichte aus der sonnigen Toskana in das etwas ruppigere Land nördlich der Alpen transformierte. Und oh Wunder! Sie „funktionierte“ und täte dies noch heute, wenn … Ja, wenn die deutschen Verlage sich dieses großartigen Autors endlich wieder annehmen würden. Unser Land ist wahrlich ein humorfernes Jammertal!

Aber immerhin hat es der Berliner Quintus-Verlag gewagt, uns für den Bierbaum mittels einer schönen Auswahl wieder einen Zugang zu verschaffen. Björn Weyand und Bernd Zegowitz stellten ein Otto-Julius-Bierbaum-Lesebuch – Darf man sowas heute noch sagen? – zusammen. Einen Auswahl-Band also, der uns quer durch den wundersamen Garten der Bierbaumschen Schriftstellerei und Poeterey führt. Der Mann war auch Journalist und Kritiker: Nicht nur über Arnold Böcklin, Hans Thoma und Franz Stuck hat er Wichtiges geschrieben. Seine Texte zur damaligen „literarischen Moderne“ sind auch nach über einhundert Jahren von erstaunlicher Frische. Bierbaum war Chef und Herausgeber wichtiger Zeitschriften wie Die Freie Bühne, Pan und Die Insel. Auf die Buchkunst der Jugendstilzeit hatte er prägenden Einfluss. Schön, dass der Einband des Quintus-Buches Heinrich Vogeler zitiert. Die schmuddeligen Tingeltangel-Soubretten schickte Bierbaum bildlich gesehen unter die Dusche und siehe da: Das deutsche literarische Kabarett, das in den 1920ern seine Hochzeit erleben durfte, war geboren. Otto Julius Bierbaum hat einige seiner hübschesten Texte für die neuartige Kleinkunstbühne geschrieben. Dass sein Freund und „Überbrettl“-Gründer Ernst von Wolzogen zum bösartigen Antisemiten und alterssenilen Hitler-Bewunderer mutierte, kann man Bierbaum nicht anlasten. Wie gesagt, er starb 1910. Die Werke „voll wirklicher Größe, Tiefe und Vollendung“ (Wolzogen) blieben ihm dadurch versagt – und uns möglicherweise manch nationaler Kitsch erspart. Aber eigentlich kann ich mir so etwas bei ihm auch nicht vorstellen …

An das Ende ihrer Auswahl stellen die Herausgeber einige Nachrufe auf den Dichter. Thomas Mann: „Es wird schon auch wieder in der Literatur einmal eine Zeit für die Menschen kommen. Diese wird dann gerechter für Otto Julius sein, als seine war.“ Ist es jetzt endlich soweit?

Blättchen-Leser sind neugierige Leute. Wer also mehr über den Dichter erfahren möchte, dem sei ein weiteres Quintus-Buch empfohlen. Bereits 2018 erschien ein ebenfalls von Björn Weyand und Bernd Zegowitz betreuter Aufsatz-Band über Otto Julius Bierbaum. Die Beiträge stellen sich dem Werk und Wirken Bierbaums in seiner ganzen Breite. Sie zeichnen ein durchaus ambivalentes Bild seiner Rolle „im Netzwerk der literarischen Moderne“ – um in der Summe die Relevanz seines Schaffens für die Entwicklung der Moderne in Deutschland deutlich zu machen. Lesenswert!

Björn Weyand / Bernd Zegowitz (Hg.): Aus dem Irrgarten der Literatur. Lyrisches, Prosaisches, Autobiographisches, Erlebtes und Erfundenes von Otto Julius Bierbaum, Quintus-Verlag, Berlin 2021, 480 Seiten, 28,00 Euro.

Björn Weyand /Bernd Zegowitz (Hg.): Otto Julius Bierbaum. Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne, Quintus-Verlag, Berlin 2018, 416 Seiten, 25,00 Euro.

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Der Dresdener Autor Jens Wonneberger hat vor wenigen Tagen ein verstörendes Buch vorgelegt. Er weist es als Roman aus, aber dieser ist extrem handlungsarm. Der Ich-Erzähler verbringt die meiste Zeit mit der Kaffeetasse in der einen Hand und der Zigarette in der anderen. Er vergrault den einzigen Menschen, der noch Kontakt zu ihm sucht. Er nimmt für den Nachbarn ein Paket in Empfang und gerät in eine tiefe Krise. Er sucht Ablenkung im Wirtshaus und findet sie nicht. Eigentlich hat er nur ein Ziel: „Ich wollte allen Ballast abwerfen, allen Verpflichtungen entkommen, ich wollte mich aus dem Rennen nehmen.“ Dafür gibt es einen Grund. Es ist kein Jahr her, dass Katharina einem Unfall zum Opfer fiel. „Flug der Flamingos“ ist Seite für Seite eine Annäherung an sie. Wonneberger lässt seinen Helden nicht die triviale Frage nach dem „Warum?“ stellen. Der Ich-Erzähler versucht zu ergründen, wer Katharina eigentlich war. Damit wird sein Buch zu einer mich tief anrührenden Auseinandersetzung mit dem Tod. Es ist ein Klagelied, aber ein sehr stilles. Jens Wonneberger rührt an die Seiten unserer Seele, die wir am liebsten im Verborgenen halten. Es gibt wenige Bücher, die einem Vergleich mit seinem Roman standhalten. Ich stelle ihn neben den „Ackermann aus Böhmen“ des Johannes von Saaz.

Jens Wonneberger: Flug der Flamingos, müry salzmann, Salzburg – Wien 2021, 154 Seiten, 19,00 Euro.