von Wolfgang Brauer
Worpswede brachte zwei Künstlerpersönlichkeiten hervor, die nicht nur im Unterschied zu den anderen dort ansässigen Malern internationale Bedeutung erlangten, sondern sich auch ästhetisch nur schwer in die Reihe der doch einander irgendwie ähnelnden Moor-Maler einfügten: Da war Heinrich Vogler, der aus seiner Zeit gefallene Märchen-Prinz, und da war Paula Becker, die 1901 den Maler Otto Modersohn heiratete und fortan einen Doppelnamen trug. Anfangs himmelte Paula Becker „die Priester, die Dir, Worpswede, dienen“ durchaus an, aber im eigenen künstlerischen Gestalten strebte sie – zunächst sicher unbewusst – geradezu vom ersten Pinselstrich an diametral Entgegengesetztes an. Das Moor war ihr weniger Altar denn Quelle der Inspiration, Worpswede kein Fluchtort vor den Zumutungen der Großstadt, sondern in allererster Linie der Ort, an dem sich ungestört arbeiten ließ und ein zunächst nur von wenigen Störfaktoren beeinträchtigter Austausch mit den Freunden möglich war.
Rainer Maria Rilke, der Mann der Freundin Clara Westhoff, erkannte dies wohl als einer der ersten: „Das merkwürdigste war, Modersohns Frau an einer ganz eigenen Entwicklung ihrer Malerei zu finden, rücksichtslos und geradeaus malend, Dinge die sehr worpswedisch sind und die doch nie einer sehen und malen konnte.“ Dazu kam ihr unbedingter Wille, alles Neue in der europäischen Kunst in sich aufnehmen zu wollen. Das war in dem knappen Lebens- und Schaffensjahrzehnt, das ihr vergönnt war, unbedingt mit Paris, der europäischen Kunsthauptstadt, verbunden. 2007 hatte die Bremer Kunsthalle in einer beeindruckenden Schau auf dieses spannungsreiche Verhältnis aufmerksam gemacht. Es sollte aber noch bis 2016 dauern, bis auch Paris selbst mit einer großen Retrospektive im Musée d’art moderne de la Ville de Paris Paula Modersohn-Becker künstlerisch wieder aufnahm.
Die Worpsweder Kollegen und Freunde – mit der großen Ausnahme Vogeler – versackten hingegen in der Flucht- und Kunstlandschaft des Teufelsmoors, die Herausforderungen der benachbarten Großstädte Bremen und Hamburg tapfer ignorierend, um dann schlussendlich im Sumpf des Völkischen zu enden. Den scheußlichen Protest des eine Zeitlang zur Künstlerkolonie gehörenden Carl Vinnen gegen die „große Invasion französischer Kunst“ (selbst Käthe Kollwitz gehörte zu den Unterzeichnerinnen) musste sie nicht mehr erleben. Der daraufhin reichsweite Wellen erzeugende „Bremer Künstlerstreit“ datierte auf das Jahr 1911. Da waren bereits Töne zu hören, die dann während der „Entartete Kunst“-Aktionen ganz laut werden sollten. Aber immerhin gehörte Otto Modersohn zu den Unterzeichnern des Gegen-Protestes.
Paula Modersohn-Beckers Lebensfaden riss jedoch abrupt, als sie die Tür zu stark abstrahierenden Bildfindungen aufgestoßen hatte, ohne im klassischen Sinne „abstrakt“ zu werden. Eine versuchte Antwort auf die Frage, welchen künstlerischen Weg sie nach 1907 – sie starb am 20. November 18 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde an einer Embolie – gegangen wäre, gehört in das Feld müßiger Spekulation. Ihr innerer Bruch mit Worpswede – „Es ist mir zu eng“, schrieb sie am 22. April 1906 an den Freund Carl Hauptmann nach Schreiberhau – war angesichts ihrer Erfahrungen und ihres unbedingten künstlerischen Wollens zwangsläufig.
In der Neujahrsnacht 1900 reiste sie das erste Mal nach Paris. Aus demselben Jahr ist ein „Selbstbildnis vor Fensterausblick auf Pariser Häuser“ (Privatbesitz, Bremen) datiert, das eine äußerst selbstbewusste junge Frau zeigt: „Ich will!“ Noch ist unklar, was … Signiert ist das kleine Bildnis bereits mit „P M B“ – die Eheschließung mit Otto Modersohn erfolgte aber erst im Mai 1901. Das Selbstporträt war Bestandteil der Ausstellung des Hamburger Bucerius Kunst Forums „Paula Modersohn-Becker. Der Weg in die Moderne“, die am ersten Maiwochenende leider zu Ende ging. Kuratiert wurde sie von Uwe M. Schneede und Kathrin Baumstark, die beide auch für den exzellenten Katalog verantwortlich zeichneten.
Sicherlich, die Exposition bot Modersohn-Becker-Kundigen keine wirkliche Überraschung, aber in ihrer Komposition doch aufschlussreiche Einblicke in ein scheinbar bekanntes Werk. Gerade ihre quantitative Beschränkung – die Künstlerin schuf immerhin rund 700 Gemälde in knapp zwölf Jahren, die Kuratoren wählten nur 80 Arbeiten, darunter 22 Zeichnungen und zwei Monotypien, aus – zwang zum Innehalten. Natürlich wiesen die ausgestellten Stillleben sehr nachdrücklich auf Paul Cezanne hin („Stillleben mit Goldfischglas“, 1906 – Von der Heydt-Museum, Wuppertal). Natürlich wäre das „Stillleben mit Tonkrug, Pfingstrosen und Apfelsinen“ aus dem Jahre 1906 (Kunsthandel Wolfgang Berner, Bremen/Berlin) ohne das auch für sie elementare Erlebnis Vincent van Gogh undenkbar. Dessen Pariser Retrospektive erlebte die Künstlerin im Jahr zuvor. Und dennoch tauchen da scheinbar urplötzlich sehr eigene Gestaltungen auf: „Stillleben mit blauem Kasten“ (1907 – Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen).
Noch deutlicher wird dies in ihren Kinderbildern, die für die letzten Schaffensjahre immer wichtiger werden: Das oft gezeigte „Mädchen im Birkenwald mit Katze“ aus dem Jahre 1904 (Paula-Modersohn-Becker-Museum, Bremen) hat nichts mit motivähnlichen Arbeiten Heinrich Vogelers zu tun, auch die Idyllisierungen Fritz Mackensens, den die junge Paula Becker bewunderte, gehören einer anderen Welt an. Man vertiefe sich nur in das sehr flächig gehaltene Gesicht des Kindes! Spätestens 1906 gelangt die Künstlerin zu rätselhaften Bildfindungen, die formal bis hin zu Farbgebung und flächiger Gestaltung durchaus von Paul Gauguin angeregt waren, aber den Beginn eines sehr eigenen Weges bedeuten. Sie inszeniert Kinderakte auf zumeist runden Teppichen und lädt diese Darstellungen stark symbolisch auf, zumeist mit floralen Beigaben („Kniender Mädchenakt mit Storch“, 1906/07 – Privatbesitz; „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen“, 1906/07 – Von der Heydt-Museum, Wuppertal).
Letzteres Bild wurde in Hamburg in einem gesonderten Saal präsentiert, der die späten Arbeiten vereinte. Darunter waren Bilder, die tatsächlich in das expressionistische Jahrzehnt zu gehören scheinen, wie das auf den ersten Blick so gar nicht in den vertrauten „Paula“-Stil passende „Elsbeth zwischen Feuerlilien“ (1907 – Privatbesitz). Die schubladenversessene Kunstwissenschaft sieht hier eine Art Vor-Expressionismus, das „Brustbild Lee Hoetger“ (1906 – Privatbesitz, Bremen) wird gern als „protokubistisch“ eingestuft. Ja, es gibt Bezüge. Dennoch ist es bis zu den „Demoiselles d’Avignon“ Pablo Picassos (1907 – Museum of Modern Art, New York) ein weiter Weg. Ich bin mir nicht sicher, ob Paula Modersohn-Becker ihn gegangen wäre. Die Einordnung dieser deutschen Jahrhundertkünstlerin als „Übergangserscheinung“ zwischen den Stilen oder „zwischen zwei Künstlergenerationen“ (Uwe M. Schneede) zu Verortende scheint mir doch zu sehr von ihrem viel zu frühen Ende her gedacht. Sie war ein künstlerischer Solitär und wäre es sicher auch geblieben.
Schlagwörter: Bucerius Kunst Forum Hamburg, Moderne, Paula Modersohn-Becker, Wolfgang Brauer, Worpswede