24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Für Gemeinsame Sicherheit

von Erhard Crome

Bernd Greiner, Historiker und Politikwissenschaftler, vor allem zu den USA publizierend, hat ein Buch verfasst über „die Schattenseiten des amerikanischen Jahrhunderts“. Nur weil die USA „ihren Anspruch auf Ordnung in der Welt durchsetzen wollten“, mussten unzählige Menschen ihr Leben lassen, wurden Gesellschaften traumatisiert, Staaten ruiniert und missliebige, auch demokratisch gewählte Regierungen gestürzt. Deshalb sei es an der Zeit, „über Konsequenzen zu diskutieren“, heißt es im Rücktitel. „Denn die globalen Herausforderungen unserer Zeit werden ohne die USA nicht zu bewältigen sein. Aber unter Washingtons Führung erst recht nicht.“

Greiner beginnt mit einem „Blick in die turbulenten Jahre zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg“. Die „Interventionisten“ und die „Isolationisten“ hätten sich zwar erbitterte Wortgefechte geliefert, doch gemeinsam sei ihnen eine maßlose Angst „vor dem Verlust von Amerikas Einzigartigkeit“ gewesen. Seit 1937 habe Präsident Franklin D. Roosevelt daran gearbeitet, die Isolationisten zu isolieren, um einen Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit zu erreichen. Greiner räumt ein, dass „die Machthaber in Deutschland und Japan darangingen, ihre Ambitionen mit Blut und Eisen durchzusetzen“. Der Zweite Weltkrieg wurde jedoch darum geführt, den Versuch des NS-Regimes und seiner Verbündeten zu vereiteln, Europa seinem rassistischen Sklavenregime zu unterwerfen und weite Teile der Welt zu beherrschen. Dazu bedurfte es des Zusammenwirkens nicht nur Großbritanniens und der Sowjetunion, sondern auch der USA. Insofern dreht Greiner hier die Perspektive um. Die USA haben sich an dem antifaschistischen Krieg aus guten, auch moralischen Gründen beteiligt. Dass sie hinterher die Gelegenheit beim Schopfe packten, um ihre imperiale Herrschaft zu errichten, ist eine andere Frage. Das unterscheidet die USA nicht von anderen imperialistischen Mächten bei anderen Gelegenheiten.

Zu Recht verweist der Autor auf das Selbstverständnis der USA, Nummer Eins in der Welt zu sein; die Welt würde gewinnen, solange die USA reüssieren. So sei es bereits in den 1930er Jahren Sinn von „America First“ gewesen: „Unilateralismus so weit wie möglich, Multilateralismus nur so weit wie unbedingt nötig, je größer die Handlungsfreiheit der USA, desto besser gedeiht die globale Ordnung“. Inwieweit Greiner hier das Politikverständnis von Donald Trump und Joseph Biden mit den damaligen Diskussionen kurzgeschlossen hat, soll hier nicht weiter diskutiert werden.

Zugleich aber hat er einen wichtigen Strom US-amerikanischen Denkens ausgespart. Es war eine Initiative des US-Präsidenten Woodrow Wilson (1913–1921), nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges die internationale Ordnung auf eine neue völkerrechtliche Grundlage zu stellen und dafür einen institutionellen Rahmen zu schaffen, den Völkerbund. Dass die USA wegen einer Senatsmehrheit der Isolationisten dann nicht Mitglied des Völkerbundes wurden, steht auf einem anderen Blatt. Der internationale Kriegsächtungspakt von 1928 wurde von den Außenministern Frankreichs, Aristide Briand, und der USA, Frank B. Kellogg, initiiert. Roosevelt, der unter Wilson Staatssekretär im Marineministerium war und dessen Grundkonzeption teilte, setzte 1945 maßgeblich die Idee des friedensorientierten Völkerrechts und seiner Institutionalisierung in Gestalt der UNO durch. Auch dies gilt ungeachtet dessen, dass die USA sich hernach oft nicht daran gehalten haben. Der Name Wilson taucht in Greiners Buch nicht einmal auf.

Die folgenden Abschnitte sind eine Tour d’Horizon durch die Untaten der USA in der Nachkriegsgeschichte: Sturz des guatemaltekischen Präsidenten Árbenz Guzmán und des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh 1953/54 durch den US-amerikanischen Geheimdienst; beide waren demokratisch gewählt, passten aber nicht in das Muster von den USA gewünschter Regierungen. Die Kuba-Krise 1962, Kriege und Folter in Südvietnam, Indonesien und Lateinamerika, der Sturz Salvador Allendes in Chile 1973, Kriege in Vietnam und Laos, in Angola und gegen die linke Regierung von Nikaragua.

Lesenswert zusammengestellt sind die Abschnitte über die „Baupläne für eine ‚Neue Weltordnung‘“ nach dem Kalten Krieg. Anfang der 1990er Jahre gingen die USA davon aus, dass ungeachtet aller weltpolitischen Veränderungen „Sicherheit primär mit militärischen Mitteln und nur in Konkurrenz zu anderen hergestellt werden kann“. Bereits im Februar 1990 redeten US-Außenpolitiker nach außen von einer Aufwertung der KSZE, sahen diese intern jedoch als „die eigentliche Gefahr für die NATO“ an. Schon Ende Oktober 1990 wurde im Nationalen Sicherheitsrat, im US-Außenministerium und im Pentagon über die Einbindung osteuropäischer Staaten in die NATO nachgedacht – da waren diese noch Mitglied des Warschauer Vertrages und die Sowjetunion existierte noch.

Unter der Rubrik „Neue Weltordnung“ werden auch die Kriege in Afghanistan und gegen Irak sowie die Zerfallskriege Jugoslawiens und der Krieg der NATO gegen Jugoslawien behandelt. Darunter der Kompromiss zur Beendigung des Krieges im April 1999, wonach die serbischen Soldaten und Polizisten den Kosovo verließen, die Albaner zurückkehrten und der Kosovo völkerrechtlich Teil Serbiens blieb. Die 2008 erfolgte Lostrennung Kosovos von Serbien sieht Greiner jedoch als einen „Schritt in die richtige Richtung“. Russlands Erklärung, dies verstoße gegen internationales Recht, weist er zurück, ebenso eine Analogie zur Krim. Der frühere russische Präsident Jelzin erscheint bei ihm als ein auf Ausgleich bedachter Politiker, während Putin „deutlich misstrauischere Neigungen“ habe und möglicherweise „ein Blender“ sei in der neuen Runde des Wettrüstens, wie seiner Meinung nach einst Chruschtschow. Russland kehre ohnehin „in den letzten Jahren seine finsteren Seiten“ hervor und China trete „wie ein Raufbold“ auf. Für beides bleibt Greiner jegliche Begründung schuldig, schmiegt sich aber der Mainstream-Strömung an.

Das „Zocken mit Nuklearwaffen“ interpretiert Greiner als „Nervenkrieg“: die andere Seite müsse mehr Angst haben vor einem Krieg als man selbst. Oft sei zu hören, der Teufelskreis könne nur durchbrochen werden: „Wenn es gelingt, das allseitige Misstrauen einzudämmen. Demnach werden Waffen nämlich nur gehortet, weil jeder jedem misstraut und alle auf alles vorbereitet sein wollen.“ Diese Vermutung könne aber „mühelos in ihr Gegenteil verkehrt werden: Waffenarsenale, nukleare zumal, sind der Urquell des Misstrauens, sie vergiften seit Hiroshima die internationale Politik an der Wurzel“.

Am Ende schließlich kommt Greiner zu einer wichtigen Folgerung. Aus einer Mischung von Überlegenheitsphantasien und Verlustängsten, Machthunger und Nationalismus, Technikbegeisterung und Machbarkeitswahn heraus sind die USA nicht in der Lage, von sich aus „die Logik der Abschreckung hinter sich zu lassen“. Deshalb plädiert er für eine „Unabhängigkeitserklärung“ Deutschlands und der EU. Als Juniorpartner der USA werde „Europa die Kraft zu neuen Wegen fehlen“. Dabei gelte: „Nicht auf das Durchsetzen, sondern auf den Ausgleich von Interessen, nicht auf die Sprache der Macht, sondern auf eine Grammatik des Vertrauens“ komme es an. Grundlage muss das Prinzip der „Gemeinsamen Sicherheit“ sein. „Sicherheit gibt es nicht mehr voreinander, sondern nur noch miteinander, die Sicherheit des Gegners ist Teil der eigenen Sicherheit, alle verlieren zusammen, wenn sie nicht gemeinsam gewinnen wollen.“ Hier bezieht sich Greiner auf Willy Brandt. Und auf einen Artikel von Egon Bahr in der Zeitschrift WeltTrends (der im Frühjahr 2001, also bereits vor 9/11 erschien): „Gewaltverzicht verlangt, dass es keinerlei Interessen geben sollte, keinerlei ungelöste Fragen, keine konfliktträchtigen Probleme, die den Einsatz von Gewalt rechtfertigen.“

Bernd Greiner: Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben, Verlag C.H. Beck, München 2021, 288 Seiten, 16,95 Euro.