Ein Jahr nach ihrem erfolgreichen Debüt mit „Flusskiesel. Geschichten von Aufbruch und Weitergehen“ veröffentlicht Katrin Lemke ihren zweiten Erzählband. Das kleinformatige Buch mit sechs Texten ist zweigeteilt. Die erste Hälfte bietet autobiographische Geschichten, die zweite ein Dichterinnen-Treffen sowie zwei Erzählungen mit antiken Stoffen.
Die Autorin, die es als Kind aus dem Brandenburgischen ins Thüringische verschlug, schildert in der Eingangsgeschichte „Kommt das Kind raus?“ ein glückliches Mädchen. In der Jenaer Frauengasse stiftet das Nachbarkind Regina (die „Brückenbauerin“) erfreulich schnell eine Freundschaft. Der Titel „Kommt das Kind raus?“ verweist gewissermaßen schon auf den Folgetext „Unter Wasser“. Darin wird von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer jungen Frau in den frühen siebziger Jahren erzählt. Galt es doch, Schwangerschaft und Studium zeitgleich zu bewältigen. Nach beträchtlichen Turbulenzen und zu aller Überraschung kam gar gleich ein Zwillingspaar zur Welt.
Der Schreiber dieser Zeilen kann als Kommilitone der Autorin bezeugen, dass sie in der satirisch-ironischen Erzählung von der „Freckenhorster Heberolle“ unsere Zeit als Jenaer Germanistikstudenten „wahrheitsgetreu“ und atmosphärisch einfängt. Da ist von einem namhaften Mediävistik-Professor die Rede, der von Pädagogik und Methodik indessen wenig verstand. Seine Vorlesungen waren sparsam besucht. Als Prüfer – und davon erzählt Katrin Lemke – erwies er sich als großzügig.
Besonders beeindruckend ist die längste Geschichte „Displaced Persons“. Der Untertitel „Für Freunde der Literaturgeschichte“, den Günter de Bruyn seinen „Märkischen Forschungen“ beigab, hätte auch hier gepasst. Lemke erfindet ein frühmorgendliches Dichterinnen-Treffen auf dem ungastlichen Bahnhof von Hannover im kalten Oktober 1947. Es begegnen sich die gebrechliche Ricarda Huch, Anna Seghers und Elisabeth Langgässer. Tatsächlich trafen sich diese Autorinnen Wochen vorher beim Berliner Schriftstellertreffen, dem Ricarda Huch als Ehrenvorsitzende vorstand.
Wenn es um die im Zentrum der Erzählung stehende Ricarda Huch geht, hat Katrin Lemke als Huch-Biographin (2014) so etwas wie ein Heimspiel. Die Familien Huch und Lemke waren bereits vor 1945 miteinander befreundet. Die Huch will 1947 zu ihrer Familie nach Frankfurt am Main zurück, die Seghers zu ihren Kindern nach Paris, in ihre rheinhessische Heimat zieht es Elisabeth Langgässer. Auf dem Bahnhof, während einer „Tee-Runde“, reflektieren die drei Frauen ihr Leben, die Situation im zertrümmerten Deutschland, sie sprechen von literarischen Plänen und denken über ihre sehr verschiedenen Poetiken nach. Seghers und Langgässer sind gleichaltrig, sie kommen beide aus der „Mainzer Ecke“. Es eint sie ein ähnliches Schicksal: Beide verloren in der Nazizeit enge Angehörige. Die eine, Kommunistin, Jüdin, flüchtete mit ihren Kindern nach Mexiko. Die andere, katholisch geprägt, verblieb in der inneren Emigration, im ungeliebten Berlin.
Zu Beginn der Begegnung bedauert die greise Schriftstellerin, dass es „zum Kennenlernen zu spät“ sei. Die Geschichte selbst zeigt, dass dieses Treffen zwar spät, aber nicht zu spät stattfindet. Für die Beteiligten (und die Leser) ist es noch der „richtige Moment“.
Um dieses Momentum geht es auch in den dichten, sich konträr gegenüberstehenden Erzählungen „Die Höhle des Morpheus“ und „Penelopes Zeit“. Lemke schildert (wie die große Seghers zuvor) Frauenschicksale aus antiker Zeit. Die freundliche und letzte Geschichte erzählt, wie Alkmene in der Höhle des Morpheus auf Zeus wartet. Diese Prosaminiatur im antiken Gewand erweist sich zugleich als moderner Erzähltext.
Penelope und ihr Sohn hingegen hatten zwei Jahrzehnte vergeblich auf Odysseus gewartet. „Kairos (die griechische Gottheit für den „richtigen Moment“ – U.K.) ist vorübergesprungen, Penelope sieht ihm hinterher. Sie wünscht, Odysseus wäre nicht gekommen.“
Einen so düsteren Schluss wollte Katrin Lemke ihren Lesern offenkundig am Ende des Buches ersparen. Und so steht diese Erzählung am Beginn des zweiten Abschnitts.
Eine eindrucksvolle Collage von Anne Busch ziert das gelungene Bändchen.
Katrin Lemke: Zeitfenster – Geschichten vom richtigen Moment. DominoPlan. Jena 2021, 80 Seiten, 8,90 Euro.
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