24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

US-Dilemma in Afghanistan und Indiens Interessen

von Edgar Benkwitz

Die Rückkehr der Taliban an die Macht in Afghanistan hat weltweit Sorgen ausgelöst und Ängste um das Schicksal der dortigen Zivilgesellschaft entstehen lassen. Zudem hat der katastrophale Rückzug der USA aus dem südasiatischen Land Empörung hervorgerufen. Ohne Zweifel werden diese Entwicklungen nachhaltige Auswirkungen auf das internationale Geschehen haben. Empfindlich getroffen ist bereits jetzt einer der großen Nachbarn Afghanistans, Indien, das seit jeher mit diesem Land und seiner Bevölkerung verbunden war und dort auch beträchtliche Interessen verfolgte.

Gewissermaßen unter dem Schirm der US-Präsenz entwickelte sich in den letzten beiden Jahrzehnten ein ausgeprägtes indisches Engagement in Afghanistan. Mit etwa drei Milliarden US-Dollar an Investitionen und Entwicklungshilfe wurden große Infrastrukturprojekte gebaut, das Parlamentsgebäude in Kabul errichtet sowie Armeeangehörige und Polizeikräfte ausgebildet. Es galt, dem Einfluss Pakistans auf offizielle politische Kräfte sowie die Taliban, die wiederholt Terroranschläge auf indische Einrichtungen verübten, entgegenzutreten.

Jetzt hat sich die Lage komplett verändert. Afghanistan scheint nun in den Augen vieler Inder für ihr Land verloren zu sein. Ein Kalifat als Nachbar, das war bisher kaum vorstellbar. Indien befürchtet vor allem einen islamistischen Einfluss, der gepaart mit einer antiindischen Einstellung der Taliban sich als Bedrohung für seine säkulare Gesellschaftsordnung erweisen könnte. Darüber hinaus geht Neu Delhi von einer beträchtlichen Veränderung des Kräfteverhältnissen in Südasien zuungunsten Indiens aus.

Während bisher tiefer gehende Stellungnahmen der Politik fehlen, gehen die Medien mit den USA außerordentlich scharf ins Gericht. Grundsätzliche Fragen werden aufgeworfen wie Bündnistreue, Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit sowie der Anspruch auf Führungstätigkeit. Bereits am 15.August, den Tag des Einmarsches der Taliban in Kabul widmete sich ein Leitartikel in der Times of India dieser Problematik. An die indische Regierung gewandt, schrieb die Zeitung: „In einer Zeit, in der Indien mit den USA strategisch zusammen arbeitet, sollte die Situation in Afghanistan Neu Delhi Anlass geben, ein alleiniges Setzen auf die USA zu überdenken. Es zeigt sich, dass in Ernstfällen die USA ihre Interessen über die ihrer Verbündeten stellen. Indien wäre besser gedient, sich auf seine eigenen wirtschaftlichen und strategischen Stärken zu konzentrieren.“ Für die Zeitung besteht kein Zweifel, dass die USA die Schuld für die Tragödie in Afghanistan tragen. Durch ihren plötzlichen Abgang hätten sie die afghanischen Sicherheitskräfte im Stich gelassen, deren Moral und Vertrauen erschüttert. Auch der ehemalige Botschafter in Afghanistan, J. Prasad, macht einen Zusammenbruch der Moral und der nationalen Psyche für die Katastrophe verantwortlich. Noch weiter geht S. D. Pradhan, ehemaliger Geheimdienstkoordinator der Regierung, der den USA durch die Verhandlungen mit den Taliban und dem Doha-Abkommen von 2020 Verrat an der afghanischen Regierung und deren Auslieferung an die Taliban vorwarf.

All diese Anschuldigungen lassen eine schwere Enttäuschung der indischen Öffentlichkeit spüren, die sich bis in Regierungskreise erstreckt. Denn die US-Präsenz in Afghanistan war für Indien immer auch ein gewisser Garant dafür, dass Pakistans Bemühungen, Afghanistan zu seinem Anhängsel zu machen und in seine antiindischen Pläne einzuspannen, Grenzen gesetzt sind. Mit der Machtübernahme durch die Taliban scheint Pakistan ein Gewinner der veränderten Lage zu sein. Indien befürchtet, dass antiindische islamistische Terrorgruppen in Afghanistan und Pakistan sich neue Ziele setzen und dabei Indien mit seiner sensiblen Kaschmir-Region, in der die muslimische Bevölkerung dominiert, im Blick haben.

Deutlich wird, dass die indische Außenpolitik durch die veränderte Lage in Südasien vor einer Reihe von Problemen und neuen Herausforderungen steht. Schwer wird es sich mit den neuen Machthabern in Kabul tun, doch sie können nicht umgangen werden. Erste Kontakte wurden noch in Doha geknüpft, diese müssen in Kabul weitergeführt werden. Der ehemalige indische Botschafter in Pakistan, T. Raghavan, meint, dass es noch zu früh sei, die künftige Politik der Taliban einzuschätzen. Entscheidend sei, ob sie Terrorgruppen unterstützen werden. Auch würde die starke Abhängigkeit Afghanistans von ausländischer Hilfe ein wichtiger Faktor sein. Laut Internationalem Währungsfonds setzt sich das Bruttosozialprodukt zu 40 Prozent aus ausländischen Zuwendungen zusammen, etwa 10 Prozent kommen aus dem Drogenhandel. Das müssten die neuen Machthaber berücksichtigen, heißt es bei Raghavan.

Desgleichen stellt sich die Frage, welche Rolle Pakistan in Zukunft spielen wird. Allgemein wird angenommen, dass die Taliban mit Kabul enge Beziehungen unterhalten werden. Doch es gibt althergebrachte Probleme zwischen beiden Ländern, zudem ist eine neue Generation in die Führung der Taliban aufgerückt, die andere politische Vorstellungen als die alten Kämpfer hat. Deshalb sollte der künftige Einfluss Pakistans auf die Taliban nicht überschätzt werden, meint Amin Bansal, Verteidigungsexperte, am 20.August in der Times of India.

Eine entscheidende Frage für Indien ist die zukünftige Rolle der USA. Aus Sicht Neu Delhis ist durch den Abzug der USA in Afghanistan ein Machtvakuum entstanden. Experten gehen davon aus, dass sich wohl China und Russland hier engagieren werden. Für die USA bliebe dann nur übrig, sich stärker auf Pakistan zu stützen und gleichzeitig zu versuchen, die strategischen Beziehungen mit Indien auszubauen. In diesem Fall ist anzunehmen, dass die sichtbare Schwäche der USA genutzt werden wird, um ein größeres Eingehen auf indische Interessen zu erreichen. Eingedenk der aktuellen Debatte über die schmähliche Rolle der USA wäre aber auch denkbar, dass Neu Delhi längerfristig einen größeren Abstand zu den USA herstellt. Das käme einem weiteren Anliegen der Öffentlichkeit entgegen, nämlich bessere Beziehungen zu China herzustellen. B. K. Singh vom India Defence Accounts Service hält den jetzigen Zeitpunkt sogar für günstig, um mit dem großen Nachbarn wieder konstruktiv ins Gespräch zu kommen und auch andere Themen als nur die leidige Grenzfrage zu erörtern. Er beschuldigt in einem Blog zwar China einer aggressiven Politik, verweist aber auf die große Übereinstimmung beider Staaten in vielen grundlegenden internationalen Fragen, die immer wieder zu abgestimmten Aktionen und gemeinsamen Handeln führen. Der Klimaschutz sei ein Beispiel dafür.

Dass sich auch die neue Lage in Afghanistan für ein Zusammengehen der beiden großen Staaten anbietet, zeigt aktuell die Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates vom 17.August. Unter dem Vorsitz Indiens führte der chinesische Vertreter aus: „Afghanistan darf nie wieder eine Zufluchtsstätte für Terroristen werden. Das ist die Grundlage, an die sich jegliche zukünftige politische Lösung für Afghanistan halten muss. […] Wir hoffen, dass die Taliban sich an ihre Versprechungen halten und einen Bruch mit den Terroristen vollziehen werden.“ Und weiter: „Alle Staaten […] sollten Aktionen unternehmen, um zu verhindern, dass terroristische Organisationen wie der Islamische Staat, Al-Qaida und die ETIM (East Turkestan Islamic Movement) Vorteile aus dem Chaos (in Afghanistan) ziehen.“

Die hier ausgedrückten Sorgen hätte der indische Vertreter kaum besser formulieren können. Doch werden indischer und chinesischer Nationalismus ein konkretes Zusammengehen beider Diplomatien für diese brennenden und andere wichtige Probleme zulassen? Die Last der Probleme in Südasien liegt gegenwärtig auf Indiens Schultern. Eine Öffnung in Richtung China könnte sie erleichtern. Denn auch in Neu Delhi wird immer klarer, dass an der Lösung asiatischer Probleme kein Weg an Peking vorbei führt. Das betrifft auch Pakistan, denn der Schlüssel für bessere Beziehungen Indiens zu diesem Land dürfte mittlerweile in Peking liegen. Doch alles hat seinen Preis, auch in der Diplomatie. Notwendige Zugeständnisse Indiens wären notwendig. Doch diese verlangen Weitsicht und Größe seiner politischen Führung.