24. Jahrgang | Nummer 17 | 16. August 2021

Die „Republik Haifa“ – eine Utopie

von Mario Keßler

Omri Boehm, Israeli (mit auch deutscher Staatsbürgerschaft) vom Jahrgang 1979, lehrt als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Der Spezialist für Spinoza, Descartes und Kant wendet sich in seinem neuen Buch einem hoch umstrittenen Problem der Politik in und um Israel zu. Seine zentrale Frage lautet: Gibt es eine Einstaatlösung für Israel und Palästina, da nach Ansicht des Autors alle Möglichkeiten einer Zweistaatenlösung gescheitert sind?

Boehm sieht zu Recht den politischen Zionismus als eine widerspruchsvolle Bewegung, die historischen Wandlungen unterworfen war. Vor 1948, dem Gründungsjahr Israels, war der Zionismus sowohl eine Reaktion auf die schlimmste Form des Rassismus, den modernen Antisemitismus, als auch (teils unfreiwillig) Verbündeter des westeuropäischen Imperialismus und Kolonialismus. Doch nach der Staatsgründung traten laut Boehm die emanzipatorischen, universalistischen Elemente immer weiter hinter die nationalistische Dimension zurück: Als Besatzungsmacht über die palästinensischen Araber büße der Zionismus immer mehr auch seinen demokratischen Charakter ein. Davon zeuge die unaufhaltsame Rechtsverschiebung des Parteienspektrums in Israel, insbesondere nach dem Mord an Ministerpräsident Jitzchak Rabin im November 1995, der den Friedensprozess und schließlich auch die in den 1990er Jahren noch realistische Zweistaatenlösung, also die Abtrennung der okkupierten Gebiete von Israel, scheitern lassen habe. Die von den Rechtsregierungen unter Langzeit-Premier Benjamin Netanjahu vorangetriebene Besiedelung des Westjordanlandes durch schließlich 700.000 jüdische Siedler habe unumkehrbare Tatsachen geschaffen; die Zweistaatenlösung sei politisch nicht mehr möglich.

Die Idee einer jüdischen Demokratie sei indes ein Widerspruch in sich. Ein demokratischer Staat müsse in Fragen der Ethnizität Neutralität üben. Ein jüdischer Staat garantiere zwar die Souveränität des jüdischen Volkes, nicht aber die aller Bürger als solcher.

Als Alternative zum Status quo sieht Boehm mittelfristig einen Einheitsstaat, der sich nicht explizit als jüdisch versteht. Er nennt ihn die „Republik Haifa“. Dort nämlich, in Haifa, würden – anders als in Tel Aviv oder Jerusalem – „Araber und Juden wie selbstverständlich die Liebe, das Gespräch und das Leben miteinander teilen“. Der Autor greift einen Plan des rechten Ministerpräsidenten Menachem Begin von 1977 auf. Der sah selbstverwaltete Gebiete und die israelische Staatsbürgerschaft für die Palästinenser vor. Viele Linke sahen in solchen selbstverwalteten Einheiten damals nichts als „Bantustans“. Boehm erinnert an binationale Projekte, die seit 1928/29 im Linkszionismus und teils auch unter rechten Zionisten populär waren, zeichnet jedoch ein erstaunlich positives Bild von Ze’ev Jabotinskys 1935 gegründeter Neuer Zionistischer Organisation. Zitiert wird Jabotinskys Aussage, wonach die Araber über ihre kulturellen und religiösen Angelegenheiten selbst bestimmen sollten, nicht jedoch sein erklärtes Ziel eines jüdischen – keineswegs binationalen – Staates beiderseits des Jordans. Jüdische Masseneinwanderung sollte die Araber darin dauerhaft zur Minderheit machen.

Als ersten Schritt auf dem Weg zu einem demokratischen, aber nichtjüdischen Israel fordert Boehm einen Wandel des Kollektivbewusstseins, der dem politischen Wandel vorangehen müsse. Besonders wichtig sei dabei eine Bindung der Erinnerung an den Holocaust als Teil eines staatsbürgerlichen Universalismus, nicht länger als Eckpfeiler einer kollektiven jüdischen Identität. Ebenso aber gehöre die Nakba (arabisch für „Katastrophe“), die Flucht und Vertreibung von 700.000 Palästinensern 1948, zur kollektiven Erinnerung aller israelischen Staatsbürger. Die Nakba sei jedoch aus der offiziellen Geschichtserzählung der jüdischen Staatsgründer wie der israelischen Intellektuellen ausgeklammert worden: „Über die Tatsache zu schreiben, dass der Aufbau eines jüdischen Staates politisch und historisch unauflöslich mit der Herstellung einer ethnischen Mehrheit und dementsprechend mit der Beseitigung der überwältigenden palästinensischen Bevölkerungsmehrheit in Palästina verbunden war, widersprach ihrer bequemen Version der Geschichte, also ließen sie es bleiben.“ Erstaunlicherweise erwähnt Boehm andererseits nicht die Austreibung von fast 900.000 Juden aus arabischen Ländern in den neu gegründeten Staat Israel. Sie wurden in Israel zumeist in die Arme eines rechten, religiös aufgeladenen Nationalismus getrieben, zu dem der Zionismus – wie sein arabischer Gegenpart – immer mehr mutierte.

Als die Israelis den Holocaust „zur Grundlage ihres Nationalbewusstseins“ machten, stellten sie, nach Boehms Auffassung, die Palästinenser in eine Reihe mit den Nazi-Tätern. Wie die Nazis würden die Palästinenser den Zionismus nicht nur aus politischen Gründen bekämpfen, „sondern aus dem metaphysischen, antisemitischen Wunsch heraus, die Juden zu vernichten“. Mit Recht würdigt der Autor die Initiativen des arabischen Knesset-Abgeordneten Ahmad Tibi, der sich dafür engagiert, den Holocaust auch zum zentralen Gedenkort arabischen Bewusstseins zu machen. Insgesamt aber geht Boehm mit dem extremen arabischen und iranischen Nationalismus, der den Israelis die Vernichtung ankündigt, zu nachsichtig um.

Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches fordert Boehm die deutsche Leserschaft auf, sich ohne Scheuklappen an der Debatte zu beteiligen: „Äußert eure Kritik, sagt, was ihr denkt, kritisiert und lasst euch kritisieren. Lasst das Licht der öffentlichen Debatte dazu beitragen, ein rationales Urteil über den jüdischen Staat zu fällen. Es nicht zu tun, macht den Juden zum gefährlichen Anderen; die Angst, kritisiert zu werden, ist bereits mit dem Mythos von der jüdischen Macht behaftet.“

Doch fällt es Boehm schwer, in Bezug auf die Ein- oder Zweistaatlichkeit einer künftigen Ordnung fundierte Gegenmeinungen, etwa die von Amos Oz oder David Grossman, zu akzeptieren. Ein um das andere Mal disqualifiziert er sie pauschal als „Zweistaatenlügen“, die „zum leeren Klischee“ verkommen seien. Auch die Wünsche der Palästinenser nach einem eigenen Staat erscheinen bei Boehm nur am Rande. Die Gewissheit von Juden, darunter scharfen Kritikern der Politik Israels, im jüdischen Staat eine Rückversicherung angesichts des weltweit um sich greifenden Antisemitismus zu haben, klammert er ganz aus.

Aus Omri Boehms Buch geht nicht hervor, wie eine Einstaats-Gesellschaft in der Realität (und nicht nur als Utopie) funktionieren kann. Vorerst haben jüdische Israelis, arabische Israelis und Palästinenser wohl gute Gründe, über ein Zweistaaten-Modell nachzudenken, wobei aber, und da hat Boehm Recht, Israel eine Heimstatt aller Bürger sein muss und ihnen allen (auch den Arabern, den oft getrennt genannten Drusen und anderen) ein Integrationsmodell anbieten muss, das viele Traditionsbestände des Zionismus kritisch befragt.

Gar keinen Raum findet leider die Idee einer Konföderation, in der die israelischen Siedler des Westjordanlandes Residenten Israels in Palästina wären; einer Konföderation mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. All das ist freilich bestenfalls Zukunftsmusik und muss Utopie bleiben, solange auf beiden Seiten der politische Wille fehlt, aus dem Kreislauf von Gewalt, Gegengewalt und Krieg herauszukommen.

Omri Boehm: Israel – eine Utopie. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Ullstein Verlag, Berlin 2020, 256 Seiten, 20,00 Euro, als E-Book 16,99 Euro.