24. Jahrgang | Nummer 16 | 2. August 2021

Erlesenes – Totgeschwiegene Morde und Kochbuchgeschichten

von Wolfgang Brauer

Zu den Lieblingsmythen der berufsmäßigen DDR-Aufarbeiter gehört der von der totgeschwiegenen Kriminalität. Die habe nicht in das Idyll der sozialistischen Menschengemeinschaft gepasst.

Jeder, der in diesem Land gelebt hat – und ebenso jeder, der sich ernsthaft mit dessen Geschichte auseinandersetzt – weiß, dass das hochgradiger Nonsens ist. Eine Tabuzone gab es aber tatsächlich: Das waren Straftaten bis hin zum Mord, begangen von Angehörigen der in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte. Zusammen mit den Familien der Offiziere und den Zivilbeschäftigten waren das immerhin eine gute halbe Million Menschen. Natürlich wusste man davon. Die DDR war ein kleines Land, in dem gerade das unter den Tisch Gekehrte stärker auffiel als das Aufgetafelte. Ein rücksichtslos über eine Fernverkehrsstraße rammelndes Panzerfahrzeug ließ sich nicht wegschweigen, wenn es über einen zivilen PKW gerollt war. Und wenn es in irgendeinem Landkreis zu flächendeckenden Verkehrsüberwachungen, Absperrungen mit Reifenkillern und Volkspolizisten mit für diese im Alltagsgebrauch eher ungewöhnlicher Kalaschnikow vor dem Bauch kam, hieß es sofort, „Da ist mal wieder ein Russe abgehau’n …“ Und allen war klar, jetzt ist Vorsicht geboten. Der ist bewaffnet, und zu verlieren hat er auch nichts mehr …

Einen solchen Fall schildern Remo Kroll und Blättchen-Autor Frank-Rainer Schurich in ihrem Buch „Brudermord und zwei weitere Verbrechen von Sowjetsoldaten in der DDR“. Konkret geht es um einen Doppelmord, 1972 begangen von einem fahnenflüchtigen Sowjetsoldaten an zwei Frauen im Landkreis Jüterbog, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Das Tatgeschehen und dessen Umstände waren eindeutig, der Täter schnell gefasst und geständig. Die Autoren schildern die Ermittlungsarbeit mit akribischer Genauigkeit. Das betrifft auch die Zusammenarbeit mit der sowjetischen Militärjustiz, in deren Zuständigkeit in der Regel die jeweiligen Strafsachen samt Täter nach Abschluss der Ermittlungen zu übergeben waren. Eine Rückkopplung erfolgte meist nicht. Diese Geheimniskrämerei bekam dem Bild des sowjetischen Militärs in der deutschen Öffentlichkeit absolut nicht gut.

Die anderen beiden Fälle befassen sich mit einem Sexualmord im Juli 1984 an einem vierjährigen Mädchen durch einen Fähnrich der Parchimer Garnison. Auch dieser Fall konnte relativ zügig aufgeklärt werden, hinterlässt aber doch Fragen, die unbeantwortet bleiben müssen. Rätselhaft auch der – von den Tatumständen eindeutig erscheinende – Fall der Brüder Baer, die im Juni 1987 den Schüssen eines Wachsoldaten in der Nähe von Fürstenberg/Havel zum Opfer fielen. Auch bei diesen Fällen liefern Kroll und Schurich präzise Einblicke in die Ermittlungsarbeit und scheuen sich nicht, die erwähnten offenen Fragen anzusprechen.

Die Autoren legten ein Buch vor, das sich wohltuend von der Effekthascherei einer sich solchen Themen gern zuwendenden, im Mitteldeutschen beheimateten Rundfunkanstalt unterscheidet.

Remo Kroll / Frank-Rainer Schurich: Brudermord und zwei weitere Verbrechen von Sowjetsoldaten in der DDR, Berlin 2019, Bild und Heimat, 176 Seiten, 5,99 Euro.

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Für die dpa berichtete Katharina Heimeier kürzlich von einer immens fleißigen Kochbuch-Autorin, die selbst nicht mehr so genau weiß, wie viele Bücher sie veröffentlicht hat. Bestimmt 40 oder 50! Das wirft die Frage auf, was das für Leute sind, die die Menschheit mit einer Art Literatur zuschütten, die sich ungebrochener Beliebtheit zu erfreuen scheint – obwohl nach den Marktforschern der GfK das regelmäßige Selberkochen in Deutschland stark rückläufig ist. 2017 bekannten sich nur noch 23 Prozent aller deutschen Haushalte zu diesem Kulturessential.

Birgit Jochens, profunde Kennerin der Geschichte der Berliner Alltagskultur, versucht, diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, indem sie die Biografien von zehn Berliner Kochbuchautorinnen erzählt, die wichtigsten ihrer kulinarisch-literarischen Produkte analysiert und deren Entstehungsgeschichte vor uns aufblättert. Das Buch zog mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann. Das hat nicht unbedingt mit der Appetitlichkeit des Dargestellten zu tun. Jochens montierte zwischen die einzelnen biografischen Kapitel ihres Buches Exkurse zur Geschichte der Nahrungsmittelbeschaffung, des Kochens, Essens und Trinkens in Berlin. Das ist lehrreich, kann einem aber mitunter schon den Appetit verderben. Beim „Schummeln auf Teufel komm raus …“ betitelten Abschnitt fühlt man sich an diverse Lebensmittelskandale erinnert, die man während des eigenen irdischen Daseins erleben musste. Ich glaube, das ist Absicht. Historiker sind so.

Aber das ist die Beilage.

Das Hauptgericht sind die Biografien.

Birgit Jochens schlägt einen ganz großen Bogen. Von Friederike Helene Unger (sie starb 1813) bis zu Ursula Winnington (1928 geboren, sie lebt in der Nähe von Berlin) untersucht sie die Schreibmotivationen und -umstände „ihrer“ Autorinnen. Die Damen sind der Biografin sympathisch, das zu spüren empfinde ich in diesem Falle als angenehm, zumal ihr an keiner Stelle der kritische Blick verloren geht. Bei aller Bewunderung für das Lebenswerk von Lina Morgenstern (1830–1909), der berühmten „Suppenlina“ – sie war die Gründerin der Berliner Volksküchen – oder Elise Hannemann (1849–1934) – der legendären Kochlehrerin des Lette-Vereins –: Diese Frauen suchten durchaus ein Gegengewicht zur proletarischen Frauenbewegung zu schaffen, die ihnen ein Gräuel war. Überdeutlich wird die Zwiespältigkeit ihrer Situation an der passionierten Köchin und Unternehmerin Hedwig Heyl (1850–1934), die 1904 in Berlin den Internationalen Frauenkongress organisierte, auf ihre alten Tage aber zur Hitler-Verehrerin mutierte. Julie Elias (1866–1943) hingegen, die ihr Leben und Schreiben der Verfeinerung nicht nur der Kochkunst („Brevier der feinen Küche“, 1922), sondern generell der Sitten widmete, starb im norwegischen Exil. Theresienstadt und Auschwitz blieben der Jüdin nur erspart, weil Freunde die todkranke Frau in einem abgelegenen Krankenhaus vor dem Zugriff der Mörderbanden bewahren konnten.

Das Schreiben von Kochbuchgeschichte entpuppt sich als Gesellschaftsgeschichte zum Anfassen. Das betrifft auch die gar nicht so unterschiedlichen Kochkulturen der beiden Nachkriegsdeutschländer. „Toast Hawaii“ war in der DDR ein Renner, auch wenn man die Inselgruppe nur aus dem Atlas kannte und eine Frucht namens Ananas zumeist auch nur aus „Meyers Lexikon“. Hochspannend!

Natürlich war in einigen Fällen das Kochbuchschreiben ein Hobby, in anderen bitter notwendige Einkommensquelle.

Die schon erwähnte Friederike Unger hatte eigentlich gänzlich andere literarische Ambitionen, ihr „Neuestes Berlinisches Kochbuch“ (1785) empfand sie selbst wohl nur als Beiprodukt. Seit 1804 leitete sie beherzt den nach dem Ableben ihres Mannes Johann Friedrich an sie gefallenen Verlag.

Sophie Wilhelmine Scheibler legte 1815 ein „Allgemeines Deutsches Kochbuch für bürgerliche Haushaltungen“ vor, das bis zu ihrem Tod in 150.000 Exemplaren gedruckt wurde. Scheibler musste – wie fast alle genannten Autorinnen – energischer um ihre Rechte kämpfen als die Kochbücher verfassenden Männer. Zudem wurden ihre Rezepte geklaut, was das Zeug hielt. Der „Scheibler“ entwickelte sich dennoch zum dickleibigen Standardwerk, dessen Reprint-Ausgaben auch heute noch ihre Käufer finden. Einen ihrer Sätze, den Jochens zitiert, mag ich besonders: „Noch eine Tugend endlich, die auch in der Kochkunst Anwendung findet, ist die Geduld, indem man sich nämlich nicht gleich abschrecken lassen muss, wenn […] ein oder das andere Gericht nicht geräth …“ Danke, Sophie Wilhelmine Scheibler!

Die Geschichte der weiblichen Kochbuchliteratur spiegelt die Geschichte der alles andere als geradlinig verlaufenen Frauenemanzipation in Deutschland, konkret ihrer preußisch-berlinerischen Ausprägung. Es lohnt sich, genauer hinzusehen.

Birgit Jochens beendet ihr Buch mit Ursula Winnington, die die Küche in der DDR erotischer und welthaltiger zu machen versuchte. Das Schlusskapitel heißt aber „Kinderkost – Kinderfrust“. Schreckliches ist da zu lesen. Man lernt den Suppen-Kaspar zu verstehen … Auch hier hat Ursula Winnington Wichtiges geleistet. Ihre Bücher „verdienen es, den Westen zu erobern“, schreibt Birgit Jochens. Stimmt!

Natürlich hat die Autorin kein Kochbuch vorgelegt. Aber sie zitiert in jedem Kapitel einige Rezepte ihrer Protagonistinnen. Das macht Lust auf Nachkochen.

Birgit Jochens: Zwischen Ambition und Rebellion. Karrieren Berliner Kochbuchautorinnen, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2021, 192 Seiten, 25,00 Euro.