24. Jahrgang | Nummer 12 | 7. Juni 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Tartuffe“ – Deutsches Theater Berlin / 75 Jahre Fachmagazin Theater der Zeit / Lebensglück Theaterberuf.

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Abendliche Konferenz der Wohlstandsfamilie Orgon draußen im Freien vor dem Portal des Deutschen Theaters. Die Stimmung nicht schlecht, okay, man hat ja alles. Sogar die DT-Immobilie. Doch echt ganz gut ist die Stimmung eben auch nicht; eher so mittel-okay. So mittel-ungeil. Was da fehlt, was nämlich alle längst überall und also auch hier bei den Orgons wollen, ist Vollgeilheit.

Doch wie soll das gehen, die grassierende Tendenz des Lebens, ja des Weltzustands zur fatalen Ungeilisierung umzukehren, um in den seligmachenden Zustand des Vollgeilen zu kommen? – Das ist die brennende Frage aller, die sich trotz Reichtums langweilen im Mittel-, Halb- oder gar Ungeilen. Eine Frage, die der französische Barocktheaterfürst Molière so nicht stellte in seiner Komödie „Tartuffe oder Der Betrüger“, diesem Fünfakter in Versform, der religiösen Fanatismus, gesellschaftliche Verlogenheit sowie Gier nach Sex und Geld bloßstellt – vom Sonnenkönig prompt verboten.

Es ist vielmehr der deutsche Wortakrobat und Popmusiker Peter Licht, der Molière total übern Old-School-Haufen schmeißt und die komplexen Probleme ums Lügen, Betrügen, Manipulieren, Verführen neu aufwirft – als Kampf des Geilen gegen das Ungeile. In seiner Farce „Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ suchen denn also mittelgeil dekadente Okay-Leute wie verrückt nach dem vollgeilen Kick.

Clan-Chef Orgon, genannt Orgi (Felix Goeser), tut das, indem er den vollgeilen Tartuffe, genannt Tüffi (Bozidar Kocevski), engagiert. Um ihn – okay! – „als neue Figur in den familiären Sozialbezug“ einzuführen. Der Rest der Familie (Regine Zimmermann, Natali Seelig, Koton Yang, Linn Reusse. Moritz Grove und Tamer Tahan), der freilich staunt nicht schlecht über diesen grunzenden Tüffi mit schweinisch phallokratischer Weltsicht.

Und ab sofort dreht sich alles an diesem knallbunten Abend (Ausstattung: Stèphane Laimé, Kathrin Plath) um die lüsterne Konkretisierung einer derartigen Sicht. Unter dem Schlachtruf „Penis als Chance!“ wird Teufelsbraten Tüffi die Orgi-Sippe – haha – „kontextualisieren“. Dafür organisiert er flink einen Workshop in „Tüffis School of Ausstülpung und inneren Frieden“. Der nun wird abendfüllend und „lifestyle-mäßig durchgelevelt“. Begleitet vom Geplapper, Geschnatter, Geschrei und Getrampel nebst Gesangseinlagen (Live-Musik Carolina Bigge). Den verbalen Erregungen über die – Tempo, Tempo! – Aus- und Einstülperei entweichen jede Menge „Mentalwolken“. Mit massenhaftem Einschluss von Zeitgeist-Sprech aus Social Media, Therapie, Soziologie, Politik. Mal voll witzig, mal auch nur halb. Unwitzig wird’s, wenn delirierende Wortverschraubungen und Phrasendreschereien in der Wiederholungsschleife fest stecken. Das ist unokay. Da hat Regisseur Jan Bosse vor Aufregung den Rotstift vergessen.

Kurz vor Schluss nach allzu langen 110 Minuten der abrupte Stopp vom Geilisieren, Kontextualisieren, Aus- und Einstülpen, Mentalwolken-Blasen und Okay-Machen: Tüffi wird – Überraschung! – als auch bloß vulgär kommerzieller esoterischer Sex-Schamane wahrgenommen. Doch das Honorar will man ihm dann doch gönnen und zahlt. War ja doch ganz lustig, lustig, tralalala. Was genau der Meinung des Publikums entsprach. Vollgeiler Applaus.

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„Die Titelrechte hält die Treuhand und will sie meistbietend verscherbeln!“ Das steckte – einigermaßen erregt – der Heiner Müller dem Harald Müller im Spätherbst anno 1992 gelegentlich einer Abendprobe von „Wessis in Weimar“ im Berliner Ensemble.

Um Missverständnisse auszuschließen: Harald Müller ist nicht verwandt mit dem Dramatiker, sondern ein umtriebiger Szenemensch, der nach seinem Studium in Leipzig und Berlin (Journalistik und Theaterwissenschaften) ein paar Jahre als Lektor arbeitete, sich seit 1987 als Freischaffender erst durch den DDR-, dann durch den Wendezeit-Kulturbetrieb schlug und vom weltberühmten Zigarrenraucher auf die kühne Idee gebracht wurde, sich doch der seit März 1992 tot am Boden liegenden DDR-Fachzeitschrift Theater der Zeit anzunehmen. Eine Neugründung wäre doch ganz nett. Und so würden die Ossis es den Wessis mal zeigen.

Der bestens vernetzte Harald – eigentlich war er unterwegs, einen Autorenverlag zu gründen – zögerte nicht und kaperte mit diversen Unterstützern die Abonnentenkartei sowie besagte Titelrechte, tat sich zusammen mit dem ehrwürdigen TdZ-Redakteur Martin Linzer, dem west-erfahrenen Theatermann Frank Raddatz, damals Hannover, und dem vornehm weltläufigen Ostberliner Publizisten Friedrich Dieckmann – und schon im Mai 1993 kam frisch eingekleidet die neue Nr. 1 auf den längst gut besetzten gesamtdeutschen Markt; das Layout besorgte Rudolf Grüttner, Star der DDR-Gebrauchsgrafik. Harald Müller fungierte fortan als Herausgeber. Was für ein tollkühner Coup.

Die „alte“ Nummer 1 erschien just vor 75 Jahren am ersten Montag im Juni 1946 im kaputten Berlin. Für eine Mark an den Zeitungsständen der sowjetisch besetzten Zone. 32 Seiten im A4-Format, schwarz-weiß, Auflage 50.000 – unglaublich. Die sowjetische Kulturbehörde hielt sehr viel auf die darstellenden Künste (Befehl: Theater wieder spielen!). Wie auf die Künste überhaupt mit ihren teils durchaus noch irritiert umherirrenden oder schon wieder auftrumpfenden, antifaschistisch eher nicht kontaminierten Künstlern, die es zu sammeln, zu fördern und nicht zuletzt noch auf Linie zu bringen galt. – Der Dramatiker und Dichter Rainer Kirsch witzelte viele Jahre später:

Auch lebende Künstler auf Linie zu bringen
Bis diese höchst seltsam balancieren und singen
Und sich die Kunst nicht mehr am Leben reibt:
Die Kunst verschwindet, doch die Linie bleibt

Bruno Henschel, Ex-Geschäftsführer des Volksbühnenverlags, erhielt die Lizenznummer 58 und bestimmte auftragsgemäß den gerade aus dem Moskauer Exil heimgekehrten Dramatiker Fritz Erpenbeck als ersten Chef der Redaktion, die mitsamt ihrem Beirat (Komponist Boris Blacher, Theaterkritiker Herbert Jhering, die Schriftsteller Günther Weisenborn und Friedrich Wolf) ihren Sitz hatte in Berlin-Mitte. In der ruinösen Oranienburger Straße, Nummer 67/68, dem später großzügig ausgebauten Haus, wo einst Alexander von Humboldt „von 1843 bis zu seinem Tode 1859 wohnte“. Eine eiserne Gedenktafel erinnert daran. – Heutzutage ist die längst total umgerüstete Immobilie ein Hostel nebst zünftiger Kneipe mit dem zufällig sinnigen Namen „Aufsturz“ im Souterrain.

Zurück zur „Linie“. Für den größten Teil der TdZ-Leserschaft war das „Bühnenmagazin für alle Sparten“ das Zentralorgan der ostdeutschen Kultur- und Theaterpolitik. Allein was sich auf dem Karussell der Rezensionen abspielte, konnte Aufstieg oder Fall der Betreffenden bedeuten. So gesehen steuerte TdZ Karrieren und Entwicklungen, gelegentlich sogar gegen Ansagen von (ganz) oben. Schließlich war auch immer wieder zwischen den Zeilen oder gar unverschämt unverblümt vom Widerspruch die Rede. Funkelte unterm Stirnrunzeln der Chefredaktionen Aufklärerisches, Freigeistiges, Tiefgründiges.

Was bleibt: Dass eine aus ostdeutschen Landen kommende gesamtdeutsche Theaterzeitschrift es überhaupt geschafft hat, zu überleben. Und kräftig mitzureden und wertend zu sortieren im sich ständig ausweitenden Betrieb. – Freilich, das tut auch die allein schon durchs Digitale sich enorm verstärkende Konkurrenz, was wiederum arg relativierend wirkt auf die einzelnen Stimmen im gemischten Chor der anschwellenden Meinungen. Um sich da zu behaupten, kommt es nicht allein auf die Kraft der Argumente an, sondern auch auf die der Poesie. Also mehr Eleganz, Witz, Charme. Da wäre, selbst für gestandene Leistungsträger, immer noch Luft nach oben. In diesem Sinne: Weitermachen! Schöner machen! Glückwunsch!

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Mit einem vernünftigen Schulabschluss in der Hand (oder schon länger im Spind) sowie einer ordentlichen Portion Theaterblut im Leib sollten junge Leute ans Theater gehen. Es gibt schließlich eine Zeit nach Corona.

Gemeint ist dabei nicht der Trip vor Publikum auf der Bühne. Gemeint sind vielmehr die Auftritte in den labyrinthischen Bereichen dahinter, darunter, darüber und nebenan. Dort nämlich gibt es in technischen, organisatorischen, handwerklich-künstlerischen Bereichen oder im IT-Betrieb eine Vielzahl spannender und herausfordernder Ausbildungsplätze; darunter natürlich die klassischen (Schneiderei oder Technik), aber auch die seltenen, die so ganz besonderen Lehrberufe.

Wie man sich da detailliert schlau macht? Die ehrwürdige Branchenorganisation Deutscher Bühnenverein hat in Zusammenarbeit mit der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft eine entsprechende Webseite eingerichtet. Da sind mehr als ein halbes Hundert Berufe für Theater und Orchester gelistet, darunter viele neue (aus dem High-Tech-Bereich), die sich erst in den letzten Jahren oder Monaten (Streaming!) etabliert haben.

Die gesammelten Berufsbilder, ergänzt durch umfangreiches Adressenmaterial sowie ganz praktische Tipps für Bewerbungen, sind zudem analog veröffentlicht in der Broschüre „Berufe am Theater“. Sie kann kostenlos bestellt werden unter material@buehnenverein.de.

An den deutschen öffentlichem Theatern und Orchestern arbeiten gegenwärtig rund 40.000 Festangestellte außerhalb der künstlerischen Bereiche. Und aus eigener, jahrzehntelanger Anschauung können wir sagen: Nicht wenige fanden dort ihr Lebensglück!

Weil es gerade passt: Am 27. Mai 1846 wurde im Hoftheater Oldenburg der Deutsche Bühnenverein geründet, ein Zwitter aus Gewerkschaft der Theaterschaffenden und Arbeitgeberverband. Die Festrede zur 175-Jahrfeier hielt der Bundespräsident. Wir gratulieren!

Das „Centralorgan“ des Vereins ist Die Deutsche Bühne, geründet sechs Jahre später. Hat heute ihren Sitz in Köln. Zusammen mit Theater heute, nicht zufällig in den 1960er Jahren im Hannoverschen gegründet, bildet sie die analoge Konkurrenz zu TdZ; von der sich ausweitenden digitalen nicht zu reden.