Die Bundestagswahl – in nur noch 120 Tagen – wirft verschiedene Schatten voraus. Einer davon: Annalena Baerbock versucht, ein kommendes Kanzlerinnen-Image zu suggerieren, obwohl mit den angekündigten Verboten von Kurzstreckenflügen und der Affäre um den Tübinger Bürgermeister Boris Palmer das Veggie-Day-Gespenst schon wieder aus dem Nebel tritt. Die FDP hat derweil beschlossen, mitregieren zu wollen, unter welchem Kanzler auch immer. Das wünscht sich auch Alexander Graf Lambsdorff, der auf den Platz des Außenministers schielt und gerade ein außenpolitisches Buch veröffentlicht hat. Ganz uneitel verweist der Herr Graf darauf, dass sein Ururgroßonkel Wladimir von 1900 bis 1906 russischer Außenminister war und dem Zaren abgeraten hatte, sich auf das Abenteuer des Krieges gegen Japan einzulassen. Hätte der Zar auf ihn gehört, wären Russland sowohl die Niederlage von Tsushima als auch die Revolution von 1905 erspart worden – und die Weltgeschichte wäre anders verlaufen.
Lambsdorff hat seinem Buch den sinnigen Titel „Wenn Elefanten kämpfen“ gegeben. Das ist Anleihe bei einem afrikanischen Sprichwort: „Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras.“ Als Elefanten sieht er die großmächtigen USA und China. Es gibt auch einen Untertitel: „Deutschlands Rolle in den kalten Kriegen des 21. Jahrhunderts“. Reiht er damit dieses unser Land neben Malta, Gambia und Bulgarien unter das Gras? Das dürfte für einen der Exportweltmeister reichlich Understatement sein. Aber am Ende meint er es auch nicht so und gibt das in der politischen Klasse Deutschlands derzeit eindressierte Glaubensbekenntnis ab, im „Machtkonflikt zwischen den USA und China [gehe es] nicht um geopolitische Vorteile, sondern um einen fundamentalen Systemkonflikt“. Denn dort herrscht ein „kommunistisches Einparteiensystem“, das drohe „weit gefährlicher zu werden, als es die Sowjetunion je war“. Und vor den Kommunisten sind bereits die russischen Lambsdorffs geflohen.
Zur Einschätzung der Lage meint der Möchtegern-Außenminister: „Es ist nicht realistisch, dass Europa sich in der Mitte zwischen den USA und China positioniert, ohne zwischen die Fronten ihrer Konflikte zu geraten.“ Deshalb sieht er „den globalen Westen“ gefordert, sich gegen China zu stellen. Und Deutschland solle dafür sorgen, dass EU-Europa „als wichtiger Teil des globalen Westens“ agiert, in Übereinstimmung mit Joe Biden. Bei jemandem, der bei Madeleine Albright an der Georgetown Universität in Washington D.C. studiert hat, überrascht gewiss nicht, dass er die Welt durch die Brille der USA betrachtet. Allerdings hatte der Autor keinen guten Lektor. So datiert er das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ der kirchlichen Friedensbewegung der DDR auf das Jahr 1990. Tatsächlich spielte es seit 1980 eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen im Lande. Gegen China führt Lambsdorff an, dessen Hongkong-Politik verstoße gegen „das mit den Regierungen in Hongkong und Großbritannien ausgehandelte Versprechen“ auf Autonomie. Tatsächlich war Vertragspartner Chinas lediglich die vormalige Kolonialmacht Großbritannien.
Wenn die anschwellende Zahl von Buchtiteln Ausdruck von Interesse ist, so hat das Thema China gerade Hochkonjunktur. Man findet aber nicht nur staatspolitisch korrekte Verteufelung, sondern auch begründete Anerkennung. Zum Teil werden aus denselben Fakten gegenteilige Schlüsse gezogen. Früher hieß es: „Es kommt auf den „Klassenstandpunkt“ an. Der promovierte Physiker Wieland Dietel aus Jena, der 1981 als junger Mann auch in den USA zur Laser-Entwicklung arbeitete, hat ein lesenswertes Buch mit dem Titel: „China auf dem Weg zur Weltmacht“ geschrieben. Faktenreich beschreibt er soziale, wirtschaftliche, technische, finanzielle und militärische Faktoren, die den Aufstieg Chinas bewirken. Er sieht einen „Machtwechsel globalen Ausmaßes“, der am Ende zum „Niedergang westlicher transatlantischer Dominanz“ und zum „Aufstieg der asiatisch-pazifischen Region unter Dominanz Chinas“ führen werde. Dietel sieht diesen Aufstieg auf einer Marktwirtschaft beruhen, die, staatlich gelenkt, auf Wohlstand für alle zielt und ein neues Gesellschaftsmodell darstellt. Er begrüßt gerade das, was Graf Lambsdorff fürchtet.
Der Verkehrsökonom Uwe Behrens, der bereits zu DDR-Zeiten mit dem Warenverkehr via Transsibirische Eisenbahn mit dem Fernen Osten befasst war, lebte von 1990 bis 2017 in China und arbeitete für deutsche und französische Unternehmen, die letzten Jahre gleichsam auf der „Neuen Seidenstraße“. Sein Buch heißt: „Feindbild China“. Behrens stellt Chinas Entwicklung während der vergangenen Jahrzehnte aus der Sicht des teilnehmenden Beobachters dar, befasst sich aber auch mit den absichtsvoll abwertenden Darstellungen im Westen. Bereits vor Jahrzehnten war charakteristisch, dass „der Westen“ China nicht verstand. Das Unwissen ist seither nicht geringer geworden. Nur ist mit dem Aufstieg Chinas ein ernstzunehmender Konkurrent aufgetaucht, der gerade wegen seiner Fortschritte als Gegner wahrgenommen wird. So entstand das Paradoxon: Je mehr sich China öffnet, desto schrecklicher erscheint es vielen im Westen. Der verstärkt konfrontative bürgerliche und antikommunistische China-Diskurs greift weiter um sich. Behrens zitiert die NATO-Außenministertagung im Dezember 2020, China müsse militärisch besser überwacht werden. Zugeschaltet waren die Amtskollegen aus Japan, Australien, Neuseeland und Südkorea – womit wir wieder beim „globalen Westen“ wären. Eine solche Konfrontationspolitik geht nicht ohne „Feindbild China“.
Daran arbeitet eifrig Matthias Naß, politischer Redakteur der Hamburger Zeit. Sein China-Buch heißt „Drachentanz“ und will aufdecken, was Chinas „Aufstieg zur Weltmacht“ für „uns“ bedeute. Das Werk enthält einige interessante Zusammenstellungen, weshalb die USA unter Richard Nixon und mit Henry Kissinger die Verbindung mit China gegen die Sowjetunion suchten, was sie mit der Unterstützung der chinesischen „Öffnung“ bezweckten, und wie China dem letztlich durch seinen Aufstieg entwuchs. Dem einstmaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, dem Naß als Herausgeber der Zeit wohl noch begegnet sein sollte, attestiert er, zu „unkritisch“ gegenüber den Mächtigen in Peking gewesen zu sein. Nachdem Schmidt verblichen ist, lässt sich das im Zeitgeist wohlfeil behaupten. Dann lobt er Donald Trumps Außenminister Mike Pompeo für die scharfe China-Kritik. Aufschlussreich ist der Hinweis darauf, dass in den inneren Zirkeln der außenpolitischen Analyse in den USA betont wurde, die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion sei immerhin ein „Streit in der westlichen Familie“ gewesen, während China der erste „nicht weiße“ Rivale sei.
Behrens und Naß beurteilen oft dieselben Vorgänge gegensätzlich. Behrens bewertet die Übernahme des Hafens im griechischen Piräus als rein weltwirtschaftlichen Vorgang: Chinesische Handelsschiffe haben, wenn sie aus dem Suez-Kanal kommen, den kürzesten Seeweg, ihre Container können mit der Eisenbahn rasch in Osteuropa und bis nach Mitteleuropa verteilt werden. Naß interpretiert dies vor allem als politischen Hebel: Die EU spreche nun gegenüber China „nicht mehr mit einer Stimme“.
Naß ist sich nicht sicher, was er eigentlich will. Einerseits malt er das Gespenst chinesischer Wirtschaftsaggression und militärischer Gefährdung an die Wand, andererseits konzediert er dem Land, dass es „nicht nach der Weltmacht“ strebe und „nie den westlichen Missionierungs- und Welteroberungsdrang“ verspürte. Was ist also falsch? Der eigentliche Feind ist für Naß die Kommunistische Partei. Sein letztes Kapitel heißt: „Auf dem Irrweg“. Auf dem sei die KP Chinas. Sie müsse weg, dann sei alles gut. China werde den technologischen Wettlauf nie für sich entscheiden können. Der Westen werde überlegen bleiben, weil es „ohne freie Wissenschaft“ keinen technologischen Fortschritt geben könne, die westlichen Gesellschaften seien schon wegen ihrer Demokratie überlegen.
Den Satz kennen wir aus Sonntagsreden der politischen Bildung. Den ersten funktionsfähigen Digitalrechner baute Konrad Zuse 1941 in Berlin. Während des Krieges wurden in Deutschland das Strahltriebwerk für Flugzeuge erfunden, der Nurflügler als besonders einsatzfähiges Flugzeug weiterentwickelt und die Raketen gebaut, die zunächst nur Bomben von Peenemünde bis London trugen. Daraus hat der frühere Nazi Wernher von Braun in den USA die Saturn-Rakete entwickelt, mit der die Amerikaner zum Mond flogen. Wenn der Satz über den Zusammenhang von bürgerlicher Demokratie und technischer Innovation stimmte, wäre im Umkehrschluss Nazi-Deutschland eine hervorragende Demokratie gewesen. Der Westen ist auf dem Irrweg, wenn er sich China zum Feind macht.
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