24. Jahrgang | Nummer 9 | 26. April 2021

Vive l’Empereur!

von Günter Hayn

Oder besser doch nicht? So mancher französische Politiker wird im Stillen dankbar sein, dass auch die „Grande Nation“ augenblicklich fest im Griff des Corona-Virus ist. Das macht das ursprünglich geplante „Napoleon-Jahr 2021“ de facto unmöglich. Zwischen Ajaccio – dem Geburtsort auf Korsika – und Waterloo sollten anlässlich des 200. Todestages des Kaisers am 5. Mai eine Vielzahl von Festlichkeiten, Ausstellungen, Konzerten, Aufmärschen und ähnlichen Events stattfinden.

Auf Elba kam man auf die Idee, selbst den heimlichen Kurzausflug einschließlich der Anlandung der polnischen Geliebten des Kaisers, Maria Walewska, in historischen Kostümen nachzustellen. Mit der Walewska hatte er einen Sohn, Alexandre, der es im Zweiten Kaiserreich immerhin zum Außenminister Napoleons III. brachte. Originalgetreu inszeniert werden sollte selbstverständlich auch das Übersetzen des Kaisers von Elba zur Bucht von Golfe-Juan bei Antibes, dem Beginn der „Hundert Tage“, vom 26. Februar 1815.

Das meiste wird wohl nichts werden. Selbst St. Helena, das mit seinem prominenten Gefangenen – der immer noch gebrauchte Begriff „Exil“ ist ein blanker Euphemismus – ganz groß rauskommen wollte, muss auf kleiner Flamme kochen. Immerhin kann man für ein nicht geringes Entgelt eine Tauchreise auf Napoleons Spuren zur Atlantik-Insel buchen. Also viel touristischer Mummenschanz, der dennoch einen ernstzunehmenden Hintergrund hat.

Selbstverständlich wünschen sich manche eine Rehabilitation Bonapartes. Ähnlich wie 1999/2000 und 2014, als versucht wurde, Karl den Großen zum Ahnherrn der Europäischen Union hochzustilisieren, gibt es durchaus Leute, die modernere Europa-Visionen gerne mit dem Namen des Korsen verbinden würden. Arte unternimmt einen solchen Versuch am 8. Mai mit dem Doku-Drama „Napoleon – Metternich: Der Anfang vom Ende“. Der Sender schwätzt davon, dass das Treffen der beiden Politiker am 26. Juni 1813 in Dresden „der Beginn eines vorher nie dagewesenen deutsch-französischen Bündnisses [hätte] sein können, eines Fundaments für ein zukünftiges Europa“. Das ist alles ziemlich peinlich und genaugenommen lächerlich. Wenn man schon vom gemeinsamen europäischen Handeln in Bezug auf den Empereur träumt – das gab es schon. Allerdings durch die Mächte des alten Europas, die ihn bei Waterloo am 18. Juni 1815 endgültig in das politische Aus schoben.

Auch die These vom Retter der Revolution ist nicht haltbar. Zwar ließ Napoleon am 5. Oktober 1795 in Paris einen royalistischen Aufstand mit Kanonen zusammenschießen, ungleich gnadenloser ging er aber später gegen alles vor, was auch nur irgendwie nach Jakobinertum roch. Die für ihn unberechenbaren Volksmassen dienten ihm als Lieferanten zum Füllen des Personalbestandes seiner Heere, mehr nicht. Auch der Eroberer – den manche europäische Zeitgenossen zunächst als Befreier betrachteten – dachte nicht daran, irgendwie die „Volkskarte“ zu ziehen. Alexander II. bereitete die Vorstellung, Napoleon könnte in Russland die Aufhebung der Leibeigenschaft und das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer verkünden, durchaus Albträume. Sein Kontrahent dachte aber mitnichten an einen Volkskrieg gegen den Zaren. Das Jahr 1812 wäre dann wohl anders verlaufen.

Und schon gar nicht passt die von Jacques-Louis David gemalte Lichtgestalt in die Zeiten heftigster Auseinandersetzungen um die europäische Kolonialgeschichte und den europäischen Rassismus. Napoleon war es, der 1802 die Sklaverei in den karibischen Kolonien wieder durchsetzte. Den haitianischen Revolutionsführer Toussaint Louverture ließ er 1803 im Château de Joux erbärmlich zugrunde gehen. Sein Code civil, den er selbst als seine Hauptleistung betrachtete, muss durchaus differenzierter betrachtet werden. Das Gesetzbuch zementierte das Ende des feudalen Zeitalters, ist allerdings zutiefst frauenfeindlich – auf persönlichen Druck Bonapartes – grundiert. Dass das von ihm begründete bürgerliche Recht bis zum heutigen Tag den Schutz des großen Privateigentums über alles stellt, erfahren derzeit die Berliner Mieterinnen und Mieter …

Und der große General? Auf der einen Waagschale steht der geniale Heerführer, auf der anderen liegen bis zu sechs Millionen Tote, die seine Kriege allein in Europa zwischen 1804 und 1815 gekostet haben. Die Zahlen sind hoch umstritten, allerdings muss man von etwa 3,5 Millionen gestorbenen Soldaten ausgehen. Der „Rest“ sind Zivilisten, die durch diese Kriege ihr Leben lassen mussten. Nicht eingerechnet sind hier übrigens die Opfer seines Orientkrieges 1799-1801 in Ägypten und Palästina.

Was wiegt nun schwerer? Schon zu seinen Lebzeiten wurde er im französischen Volk als „Menschenfresser“ bezeichnet.

Insofern ist es schon verständlich, dass nicht die Republik selbst, sondern eher private und regionale, respektive lokale Gremien als Inszenatoren des Jubeljahres auftreten. Präsident Emmanuel Macron hat zwar angekündigt, eine große Rede halten zu wollen, aber das Wie und das Was sind noch durchaus im Nebel verborgen. Dabei würde er doch so gerne …

Der aus der Picardie stammende Präsident fühlt sich dem Korsen durchaus nahe: „Ich trage den französischen Eroberungsgeist in mir“, zitierte ihn im Mai 2017 DER SPIEGEL. Auffällig wurde er damit unter anderem im Nahen Osten. Die Gier des Präsidenten, Frankreich mit Macht und Gewalt in der libanesisch-syrischen Konfliktzone fest zu verankern, verführte Stefan Brändle im vergangenen September im Wiener STANDARD zur Vergabe des Beinamens „Napoleon der Levante“. Die türkische Regierung reagierte weniger gelassen. Zu selben Zeit plusterte Macron nämlich im griechisch-türkischen „Gaskrieg“ die militärischen Muskeln auf. Ankara titulierte ihn daraufhin als „Möchtegern-Napoleon“. Der historische Napoleon scheiterte im Mai 1799 zwar bei der Belagerung von Akkon, schlug aber am 25. Juli 1799 die Osmanen bei Abukir vernichtend.

Der französische Journalist Jean-Dominique Merchet legte 2018 ein Buch vor, das er „Macron Bonaparte“ nannte. Beide seien „individuelle Abenteurer, große Verführer und autoritäre Persönlichkeiten“. Oberflächlich gesehen passen die jüngsten Äußerungen aus dem Elysée-Palast an die Adresse Wladimir Putins in dieses Bild. Und die zunehmend erstarkende „Frankreich-raus-Bewegung“ in Mali zum Beispiel ist durchaus eine Reaktion auf eine napoleonisch geprägte Außenpolitik, die die Kanone nicht als letztes, sondern als erstes Mittel des Königs einzusetzen gewillt ist.

Der Publizist John Lichfield wies kürzlich auf der britischen Internet-Plattform UnHerd.com auf die Ambivalenz des Verhältnisses des Präsidenten zu seinem großen Vorgänger und dessen Widersprüchlichkeit überhaupt hin. Lichfield meint, die Geschichte sei „selten so eindeutig, wie die Gegenwart sie gerne malen möchte. Dieses zweihundertjährige Jubiläum könnte eine Gelegenheit sein, über die verworrenen Wurzeln unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit nachzudenken. Und ein Versuch, unsere Gegenwart zu verstehen.“ Das ist konjunktivisch formuliert. Der konservative und EU-kritische The Spectator ist da zupackender. Macron habe ebenso wie Napoleon eine „britische Besessenheit“, schrieb John Keiger am 4. April 2021 unter der Überschrift „Macron’s Napoleon complex“. Er beendet seine Analyse mit einem Ausblick auf das Jahr 2022. Frankreich werde dann die Präsidentschaft des Europäischen Rates übernehmen, und Macron direkt über Europa regieren. „Großbritannien kann mit einem harten Kurs rechnen.“ Aber das dauere nur theoretisch sechs Monate an. Denn es sei unklar, ob der Präsident den 18. Juni am Ende seiner Regentschaft erleben werde. Im Mai sind in Frankreich Präsidentschaftswahlen … Wieso den 18. Juni? Keiger (mit einer leichten Häme): „Am 18. Juni 1815 fand Bonaparte nur 10 Meilen von Brüssel seinen politischen Tod.“

Von wegen, der Kaiser sei vor 200 Jahren gestorben. Zumindest sein Geist scheint nicht totzukriegen. Vive l’Empereur! Oder doch nicht? DIE ZEIT zitierte jüngst Alexis Corbière, Deputierter der französischen Nationalversammlung für den Wahlkreis Seine-Saint-Denis VII – das Département gehört zur Pariser Banlieue, Corbière steht dem Linken Jean-Luc Mélenchon nahe –: „Die Republik kann jemanden nicht offiziell ehren, der ihr Totengräber war, indem er die erste republikanische Erfahrung unserer Geschichte beendete, um ein autoritäres Regime zu errichten.“ Sie kann schon … Die herrschenden Kreise zeigen damit allerdings, wes Geistes Kind sie sind.