24. Jahrgang | Nummer 6 | 15. März 2021

Ich brauche keine Putzkolonne…

von Stephan Wohanka

… oder warum ich mich mit der Nazivergangenheit selbst auseinandersetzen will.

Ich gestehe es gleich eingangs – ich bin ein alter, weißer, deutscher Mann, noch in Kriegszeiten geboren und mich noch gut der schweren Nachkriegszeit erinnernd. Ein Mann, der gerade den schlimmsten persönlichen Verlust erlitten hat, den ein Mensch erleiden kann; aber das ist persönlich und gehörte eigentlich nicht hierher. Jedoch schon in soweit – ich habe ein erhebliches Maß an Trauerarbeit vor mir.

Um zur Sache zu kommen: In einer Berliner Tageszeitung war vor Kurzem in einem Debattenbeitrag zu lesen, dass zwei im Beitrag genannte Personen „die gleiche Arbeit gemacht (haben), die meine Familie und viele andere Familien mit Migrationsvordergrund in Deutschland zu machen verdammt sind: die Almans von dem braunen Dreck zu befreien. […] Wir, die Menschen mit Migrationsvordergrund, müssen die Almans immer wieder daran erinnern, dass sie die Menschen mit Nazihintergrund sind, weil sie es anscheinend immer wieder vergessen.“

Da ich der bin, der ich bin, war mir der Begriff „Alman“ bis dato natürlich unbekannt. Nun weiß ich’s. Und als „deutscher Staatsangehöriger ohne offensichtlichen Migrationshintergrund“ – nichts anderes meint Alman – will ich aber gar nicht „von dem braunen Dreck befreit“ werden; schon gar nicht durch Menschen, die meinen, mich „immer wieder daran erinnern (zu müssen), dass sie (also die Almans – St.W.) die Menschen mit Nazihintergrund sind.“ Ich, dessen Eltern keine Mitglieder der NSDAP waren; mein Vater jedoch Offizier in der Deutschen Wehrmacht – zwar hat er als Oberstabsveterinär nur die Pferde ebendieser Wehrmacht kuriert, aber immerhin, also ich als Offizierssohn nehme mir das Recht heraus, mich auf meine ureigene Art mit dem „braunen Dreck“ auseinanderzusetzen.

Auch dieses Sich Auseinandersetzen hatte historisch auf einer anderen Ebene als der unmittelbar persönlichen vermeintlich mit kollektiver „Trauerarbeit“ zu tun. Jedenfalls dann, wenn man Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch von „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) zum Maßstab nimmt, in dem die These vertreten wird, dass der Tod Hitlers eine nationale Trauer hätte auslösen müssen. Stattdessen zeigten sich die Deutschen eher entlastet, konzentrierten ihre Kräfte auf den Wiederaufbau des durch eigene Schuld zerstörten Landes und stellten in relativ kurzer Zeit das Wirtschaftswunder auf die Beine. Die Nazizeit und ihre Gräueltaten wurden verdrängt und möglichst vergessen. Das Erbe des Nationalsozialismus, seine Ideologie gelangte durch eine hohe personelle Kontinuität bei der Besetzung entscheidender Verwaltungsposten in bedeutendem Maße in die politische Struktur der jungen Bundesrepublik. So weit, so schlecht.

Aber – und das ist die Frage: War es überhaupt legitim, Sigmund Freuds komplexen Begriff der Trauerarbeit – als schrittweise Loslösung von einem verlorenen (Liebes)Objekt – auf den desaströsen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes anzuwenden? War der Begriff der Trauerarbeit in diesem Kontext, überhaupt der richtige? Ging es nicht vielmehr damals um die Unfähigkeit der Deutschen zur Empathie, zum Mitempfinden? Mit den Opfern des Holocaust, den „anderweitig“ Ermordeten, den Entrechteten? Und um Anerkennung von Schuld? Das alles will ich als Nachgeborener, als Kind von zumindest Verstrickten selber durchdenken, für mich gewichten und keine „Putzkolonne“ am Werke sehen, die „das“ einfach entsorgt. Deshalb empfinde ich dieses Ansinnen als Anmaßung, einen unzulässigen Übergriff auf mein Verständnis mit dem Umgang mit der neueren, verbrecherischen Geschichte dieses Landes.

Es geht auch nie nur um die Geschichte an sich, sondern immer auch um das Narrativ dahinter. Was wird mit der Geschichte erzählt? Und wer erzählt sie? Und warum? Mit welcher Intention? Ein „Bereinigen“ steht all dem diametral entgegen. Es käme auch einen Schlussstrich der Debatte gleich.

Desgleichen will ich auch über darüber hinausgehende, mittelbar mit dem verbrecherischen Nazitum verbundene Fragen nachdenken wollen, wie: Handelt es sich bei Aggressionen grundsätzlich um eine anthropologische Konstante, wie das Konrad Lorenz in „Das sogenannte Böse“ behauptet und der die Deutschen sozusagen „zum Opfer fielen“ oder um ein kulturabhängiges, triebgesteuertes und deshalb einhegbares Phänomen? Wichtig zu wissen, um mit dem anschwellenden, heute noch vor allem verbalen Aggressionspotential umzugehen … Die Nazivergangenheit lehrt, wie schnell Worte in Taten umschlagen können.

Auch die Auseinandersetzung damit, ob ich einen „Nazihintergrund“ haben könnte, will ich selbst, ohne fremde Assistenz, vollziehen. Ich will mich in eigener Person, aus eigenem Antrieb „immer wieder“ meiner familiären Hintergründe „erinnern“ wollen. „Haben könnte“ deshalb, weil schon zu fragen ist, was einen „Nazihintergrund“ ausmachte. In dem ziemlich hemdsärmelig geschriebenen, eingangs zitierten Text nennt die Autorin ein Merkmal: „Aktiver Nazi“ gewesen zu sein. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Des weiteren suggeriert der Text zumindest, dass auch der Dienst in der Wehrmacht, wobei erschwerend hinzukäme, einen höherer Offiziersrang eingenommen zu haben, ein solches Kriterium sein könnte. Dem stimmte ich nicht vorbehaltlos zu, denn es machte letztlich jeden Wehrmachtssoldaten zu einem Nazi, respektive seine Nachkommen zu Menschen mit Nazihintergrund. Das Stichwort „Wehrmacht“ darf nicht beliebige geschichtspolitische Reflexe auslösen. Diese prägen jedoch das Geschichtsbild der Autorin, wenn sie behauptet, dass – ich zitiere nochmals – „wir, die Menschen mit Migrationsvordergrund, die Almans immer wieder daran erinnern (müssen), dass sie die Menschen mit Nazihintergrund sind, weil sie es anscheinend immer wieder vergessen.“ Also sozusagen wir alle! Derartige Pauschalisierungen sind wenig hilfreich und stünden einem Anliegen, Unterstützer aus der Gesellschaft zu gewinnen für die weitere – wenn man das schon so will – „Befreiung vom braunen Dreck“ in ebendieser Gesellschaft, entgegen. Es ist auch vorstellbar, einen Nazihintergrund beliebig zu instrumentalisieren; Menschen könnten mit Verweis auf ihre Herkunft delegitimiert werden. Was geschieht …

Notwendig ist das Gegenteil; die dieses Land belastende historische Schuld bedarf der weiteren Auseinandersetzung damit; aber eben keiner „Säuberung.“ Heute bescheinigt zwar das Ausland den Deutschen, ihre Vergangenheit vorbildlich – wirklich? – aufgearbeitet zu haben. Dennoch ist die Weigerung eines großen Teils der Bevölkerung, sich mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte zu befassen, noch weit verbreitet. Das zeigen nicht zuletzt die seit Jahrzehnten immer wieder aufkommenden „Schlussstrich-Debatten.“ Paradoxerweise ist Deutschland der einzige Rechtsstaat, der sich heute noch bemüht, die Verbrechen der vor mehr als zwei Generationen untergegangenen NS-Diktatur zu verfolgen. Das Paradox löst sich sofort auf, denn – wie oben geschrieben – war der Umgang dieses Staates mit der düstersten Phase der deutschen Geschichte rund zwei Jahrzehnte lang, bis in die 1960er-Jahre hinein, äußerst frag- und kritikwürdig.

Begegnungen junger Menschen mit unmittelbaren Zeitzeugen und deren lebendige Schilderung der Gräueltaten der Nazizeit werden seltener, sind bald überhaupt nicht mehr möglich. Dann ist es an uns, den unmittelbar Nachgeborenen, das Gespräch mit den nächsten Generationen zu suchen. Umso mehr müssen wir, die Repräsentanten unserer Alterskohorte, uns unserer ideellen Grundlagen in Sachen Naziverbrechen sicher sein. Und diese Grundlagen vermag man nur selbst zu legen.