24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Inthronisation einer Königin

von Renate Hoffmann

Sie ist es. Die Orgel. Instrument des Jahres 2021. Und im „Encyklopädischen Realwörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerke, Leipzig 1846“ nachfolgend beschrieben: „Orgel, ein in Kirchen gebräuchliches u. durch die Gewalt u. Fülle seines Tones äußerst wirksames musik. Instrument, welches aus verschiedenartigen, nach Masse, Form, Mensur u. Intonation auf Windladen in Chöre geordneten Pfeifen besteht u. durch künstlich bereiteten Wind zum Tönen gebracht wird.“ – Wolfgang Amadeus Mozart verlieh ihr den auszeichnenden Beinamen, den sie, in weibliche Form gebracht, behielt.

Im September 1777 begegnete Mozart auf einer Reise nach Paris in Augsburg dem hochgeschätzten Orgel- und Klavierbauer Johann Andreas Stein. Darüber berichtete er dem Vater Leopold: „Als ich h: Stein sagte ich möchte gern auf seiner Orgl spielen, denn die Orgl seie meine Passion, so verwunderte er sich und sagte: was, ein solcher Mann wie sie, ein solch großer Clavierist will auf einem Instrument spielen, wo kein Douceur, kein Expression kein piano noch forte statt findet sondern immer gleich fortgehet? – Das alles hat nichts zu bedeuten. Die Orgl ist in meinen augen und ohren der König aller Instrumente.“

Die Orgel brilliert mit Superlativen: Ein Tasteninstrument, dessen Töne durch Pfeifen erzeugt werden; unter den Musikinstrumenten ist sie das größte. Ihre Klangfarbe zeigt Vielfalt und Eigensinn. Ihre Klangstärke reicht von piano pianissimo (gleich einem Windhauch) bis zu forte fortissimo (wie ein Junigewitter). Der Tonumfang kann zehn Oktaven überspannen. Längst hat sie auch den weltlichen Raum erobert und ist zum tragenden musikalischen Element großer Aufführungen geworden. – Verdientermaßen erhob die UNESCO im Jahr 2017 Orgelbau und Orgelmusik in den Rang eines Immateriellen Weltkulturerbes.

Bis zur volltönenden Klangfülle der Königin führte ein langer Weg. Man glaubt, den ersten Konstrukteur eines Werkes zu kennen, das den Namen „Orgel“ tragen kann. Ktesibios aus Alexandrien (um 246 v. Chr.), ohne Zweifel auch ein Musikliebhaber, der die pfiffige Idee verfolgte, den „künstlich bereiteten Wind“ durch Wasserdruck herzustellen. – In der Antike galt die nun weiterentwickelte Orgel, insbesondere bei den Römern, als beliebtes Luxusinstrument bei Festivitäten. Und nach Westeuropa gelangte sie als Präsent byzantinischer Gesandtschaften an den fränkischen Hof. Vermutlich die erste auf deutschem Boden erbaute Orgel entstand im Jahre 826 in Aachen. – Durch Stilepochen, erweitertes Musikverständnis und fortschreitende Technik geprägt, wurde sie über die Jahrhunderte hinweg unangefochten zur Königin der Instrumente.

Hinter dem oft prunkvoll gestalteten Prospekt, der Orgelschauseite, verbirgt sich ein mechanisches Wunderwerk. Die Tonangebenden sind die aus Metall und Holz und in verschiedenen Formen gefertigten Pfeifen. Sie stehen auf hölzernen Kästen, den „Windladen“. In ihnen sind Ventile angebracht, welche den Luftstrom zu den Pfeifen ermöglichen oder unterbrechen. Ein Gebläse erzeugt Druckluft, den „Orgelwind“, der über Windkanäle zu den „Windladen“ geführt wird. – Die Ventilsteuerung, die „Traktur“, geschieht auf höchst komplizierte Weise; sie überträgt den Tastendruck auf die „Windladen“, was auch pneumatisch oder elektrisch (über Relais) geschehen kann.

Vom Spieltisch aus bringt der Organist das musikalische Wunder zum Klingen, auf der Klaviatur für die Hände (die „Manuale“, gewöhnlich zwei bis drei) und der Klaviatur für die Füße (das Pedal). Bevor das Spiel beginnt, werden die „Register“ gezogen. Es sind dies Pfeifenreihen gleicher Klangfarbe und gleicher Bauart; und ihr Gebrauch wird als „Registrierung“ bezeichnet. An einer Kleinorgel, dem Positiv, ließ ich mir eingehend das Innenleben und den Spielvorgang erklären und war hernach „so klug als wie zuvor.“

Die hohe Kunst des Orgelbaues kennt viele berühmte Namen. Johann Michael Stumm, Hauptvertreter einer Orgelbauerfamilie, die Wissen und Können von Generation zu Generation weitergab; Wilhelm Sauer, Friedrich Stellwagen, Friedrich Ladegast. Herausragend aus dem Kreis sind wohl die Brüder Andreas und Gottfried Silbermann. Wobei Gottfried (1683–1753) den Bruder noch überragte. Er galt als selbstbewusst, verfügte über Organisationstalent und merkantilen Sinn. Man lobte an ihm sein gutes Gehör und die „ungemein saubere und accurate Arbeit“. Die Orgeln waren von besonders reinem silbernem Klang. Davon wusste man bereits in St. Petersburg.

Vor einiger Zeit reiste ich nach Freiberg in Sachsen. Dort stand Gottfried Silbermanns Werkstatt. Dort steht auch die große Domorgel von St. Marien, eines der 31 noch erhaltenen denkmalgeschützten Instrumente. Zum Bau der Freiberger Orgel unterschrieb er am 8. Oktober 1710 den Kontrakt, der ihn verpflichtete, von „nächstbestehenden Weihnachten an binnen zwey Jahren“ das Werk zu vollenden. Eine kurz bemessene Zeit. Mussten doch allein mehr als zweieinhalbtausend Pfeifen angefertigt, aufgesetzt, gestimmt und intoniert werden. Weitere Gewerke lieferten Zuarbeit: Zimmerleute, Huf-, Nagel- und Zirkelschmiede; Klempner, Gürtler und Seiler.

Verzögerungen blieben nicht aus. Neben unvorhersehbaren Misslichkeiten begründete sie der Orgelbauer auch mit dem Hinweis: „[…] daß die Materialien auch nicht allemahl sogleich bey der Hand gewesen, und ich also auch manchmal (habe) drauf warten müssen.“ Im Sommer 1714 ist das Werk vollendet, geprüft, gerühmt und bewundert.

Im feingegliederten Kirchenschiff des Freiberger Doms galt meine Bewunderung der großen wandelbaren Königin des Herrn Silbermann. Sie jubelte, trauerte, rauschte hoch auf und mäßigte sich zu verhaltenem Gesang; dann wiederum konnten ihre Stimmen durchsichtig werden wie Glas. Einmal erschien es mir, als trällere jemand ein Liedchen, und spiele es dann auf der Panflöte.

Silbermanns Geschichte ist gleichzeitig die Geschichte seiner Orgeln. Leipzig hätte beinahe eine gehabt, Nassau hätte beinahe keine gehabt, und Oederan bekam eine Orgel, die nicht vorgesehen war. – Gottfried Silbermann war auch ein Reisender. In der Freiberger Werkstatt erfolgte weitgehend die Vorfertigung. Dann lud man Pfeifen und Zubehör auf Wagen, und am Bestimmungsort wurde „aufgesetzt“. – Als Dienstreisender kannte er die Vor- und Nachteile fremder Unterkünfte und traf Vorsorge. Nach Rochlitz schrieb er: „Wegen derer Federbetten dürffen Sie sich keine Sorgen machen, da ich vor mich und die Meinigen selbst Betten mitbringen werde.“