24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Bildung unter erschwerten Bedingungen

von David Legrand

Unser Bildungssystem hierzulande gilt als selektiv und fördert soziale Disparitäten. Die PISA- und IGLU-Studien haben in den 2000er Jahren die Diskussionen über Chancenungleichheiten im Bildungssystem maßgeblich befördert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus Akademikerfamilien einen hohen Bildungsabschluss erwerben ist demnach sehr viel höher als bei Kindern aus Nichtakademikerhaushalten. Damit trägt das Schulsystem auch dazu bei, dass sich soziale Ungleichheiten über Generationen hinweg reproduzieren.

Die Corona-Pandemie verschärft diese Ausprägungen von sozialen Disparitäten und deren Reproduktion. In Zeiten von Homeschooling sind Schulkinder sehr viel stärker noch von der sozialen, kulturellen und ökonomischen Herkunft ihrer Eltern abhängig. So müssen Kinder im Rahmen des Homeschoolings in der Regel einen verwendbaren Internetzugang haben, benötigen einen eigenen Arbeitsplatz zu Hause und gerade auch jüngere Kinder häufig die Unterstützung ihrer Eltern.

Der kleine Luca, der mittlerweile in die zweite Klasse einer Grundschule geht, erlebt mittlerweile bereits zum zweiten Mal einen Lockdown inklusive Video-Konferenzen und Telefonaten mit Lehrkräften und dem Homeschooling-Lern-Programm. Die Eltern von Luca befinden sich im Homeoffice; sie arbeiten in nicht-systemrelevanten Berufen. Luca hat einen kleinen Bruder, der unter normalen Umständen in den Kindergarten gehen würde. Auch er muss wie Luca aufgrund der Pandemie zu Hause bleiben. Luca hat noch Glück: Seine Eltern sprechen die geforderte (Bildungs-)Sprache und haben auch den Bildungshintergrund, um Luca zu unterstützen, zu begleiten und anzuleiten bei den Schulaufgaben. Sie drucken fleißig Arbeitsaufträge aus, die ihnen die Lehrkräfte per E-Mail zusenden, lesen die Aufgaben vor und besprechen sie mit Luca – jeden Tag an fünf Tagen in der Woche.

Lucas Vater arbeitet Vollzeit und seine Mutter halbtags. Gemeinsam müssen sie auf eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 60 Stunden kommen, um ihren Arbeitskontrakt zu erfüllen. Für sie bedeutet das, dass immer einer der beiden arbeitet und der andere sich um die Kinder kümmert. Ein paralleles Arbeiten ist mit den kleinen Kindern nicht möglich. Gemeinsam kommen sie so auf eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden im Lockdown. Besonders schwierig wird es, wenn Luca Unterstützung bei den Schulaufgaben benötigt – was für einen Zweitklässler regelmäßig der Fall ist – und sein kleiner Bruder ebenfalls Aufmerksamkeit einfordert. Häufig ist der kleine Bruder zu laut, während Luca oder das arbeitende Elternteil sich auf die Arbeit konzentrieren muss. Da sind Frustration und Reibereien vorprogrammiert. Spielzeiten, Ausflüge und andere Aktivitäten kommen in diesen Zeiten zu kurz. Verabredungen können auch kaum wahrgenommen werden. Die Situation ist für Familien herausfordernd.

Die schulischen Curricula werden trotz der Corona-Pandemie und des Ausfalls des Präsenzunterrichts nicht ausgedünnt. Ganz im Gegenteil: im ersten Lockdown erlebten Luca und seine Eltern, wie der 10er-Übergang in Mathe neu eingeführt wurde und gelernt werden sollte. Dadurch, dass die schulischen Lerninhalte nicht angepasst werden, erhöht sich der Selektionsdruck und Partizipationsasymmetrien manifestieren sich weiter. Kindern, denen nicht die Unterstützung, wie sie Luca erhält, zuteilwird, werden die Lerninhalte, die aufgrund der Unterrichtsausfälle versäumt wurden, kaum mehr aufholen. Lucas Eltern denken häufig darüber nach, wie es während des Lockdowns in anderen Familien aussehen mag, die vielleicht keine Möglichkeit haben, um die gestellten Schulaufgaben auszudrucken, bei denen die Eltern die deutsche (Bildungs-)Sprache nicht sprechen und die bei den Aufgaben nicht helfen, sie nicht vorlesen und erklären können; sie denken an Familien, deren Internetleitungen zu langsam für die schulischen Videokonferenzen sind oder die keinen Computer haben.

Chancenungleichheiten und soziale Ungleichheiten haben durch die Corona-Pandemie stark zugenommen; es sind Chancenungleichheiten und soziale Disparitäten, die nur schwerlich zu reduzieren sind. Sofern man eine Reduktion der Chancenungleichheiten und der sozialen Ungleichheiten erzielen möchte, müssen ernst gemeinte und intensive Bemühungen angestellt werden. Entscheidend sind im Bildungskontext kleine heterogene Lerngruppen, eine gezielte früh einsetzende individuelle Förderung, stärkere Binnendifferenzierung im Unterricht und mehr Schulpersonal. Außerdem müssen die Kerncurricula den aktuellen Bedingungen angepasst werden. Die Verteilungsstruktur der Schüler innerhalb eines Klassenverbands sollte ausgewogen sein, so dass die gesellschaftlichen Verhältnisse im Klassenraum wieder zu finden sind. Außerdem scheint die Einstellung des Pädagogen hinsichtlich der vermeintlichen Kausalität von sozialer Herkunft eines Schülers und den damit verbundenen Chancen des Kompetenzerwerbs ein wesentlicher Faktor der Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu sein.

Wenn der Pädagoge nicht einmal an den Bildungserfolg seines Schülers glaubt, wird auch der Schüler kaum daran glauben können, was seinem Lernerfolg letztlich im Wege steht. So offenbarte die IGLU-Studie von 2006 eindrucksvoll, dass es für Kinder aus Akademikerfamilien bei gleichem Kompetenzniveau 2,63-fach wahrscheinlicher ist, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als für Kinder aus Nichtakademikerfamilien. Hier muss auch die Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals in den Blick genommen und dieses für Themen der Reproduktion von Chancenungleichheiten und sozialen Disparitäten sensibilisiert werden.