14. Jahrgang | Nummer 14 | 11. Juli 2011

Blickkontakt. Berliner Ansichten

von Erhard Weinholz

Pünktlich zehn nach zehn verlässt der Zug den Bahnhof Gesundbrunnen. „Wir begrüßen die neu zugestiegenen Fahrgäste im Regionalexpress nach Falkenberg/ Elster über Berlin-Südkreuz, Ludwigsfelde, Jüterboog…“ „Boog?“… „Bock“ heißt das, verdammt noch mal. „Unser nächster Halt ist Berlin-Hauptbahnhof.“ Die Fahrt dorthin ist kurz, und noch kürzer ist das Hauptvergnügen, das sie bietet. Schon stehen erste Fahrgäste auf, ziehen Mäntel über, hieven Gepäckstücke auf den Gang. Da heißt es, sich eilends durch zu zwängen, um einen Platz rechts am Fenster zu belegen. Denn links wird nur Altbekanntes zu sehen sein: Charité-Bettenhaus, Handelszentrum, Fernsehturm, nahebei die Kuppel des Doms. Aber noch fahren wir parallel zur Ringbahnstrecke. Erst kurz nach der Folgestation, Bahnhof Wedding, trennen sich die Gleise: Es geht halblinks hinauf, über einen Kanal hinweg, und dann öffnet sich ein Panorama: Grau und reich von Wolken gegliedert der Himmel über Häusern, Häusern ohne Ende; der Gott der Stadt könnte darauf thronen, die Winde lagern schwarz um seine Stirn, und Kirchenglocken wogen auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer. Türme gibt es genug: Der da gehört zum Westhafen, daneben die Schornsteine des Heizkraftwerks, da hinten… der Wasserturm in Westend? Oder der Charlottenburger Rathausturm? Nein, der kann’s nicht sein, vielleicht… schon vorbei: Ein möhrenroter Wohnblock versperrt die weitere Aussicht. Ein gutes Dutzend Sekunden nur währt der freie Blick; doch statt das Großstadtbild zu genießen, habe ich mich wieder im Detail verfangen. Zwischen betonierten Flächen, Lagerhallen, Ödland und verrottenden Laubenkolonien geht es rasch abwärts, dem Tunnel zu. „Sie haben Anschluss an einen Regionalexpress nach Dingsda vom Bahnsteig Ölf… ich wiederhole… vom Bahnsteig Ölf.“ Ankunft, Ausstieg in dämmriger Halle. Beim nächsten Mal besser, sage ich mir.

Will ich zurück in längst vergangene Zeiten, brauche ich nicht weit zu fahren: Mit der Straßenbahn zum Alex, ein paar Stationen sind es nur, umsteigen in die U8, Gesundbrunnen wieder nach oben. Rechts das Einkaufscenter entlang der S-Bahn, links ein kleiner Park, vor mir die höchst belebte Badstraße: Frauen mit Kopftuch hinter Kinderwagen, junge Leute, die es eilig haben, alte, die dahinschleichen, Bettler und immer wieder Rufe: „Drei Schalen Erdbeeren ein Euro, nur ein Euro drei Schalen!“ Ich wechsele die Straßenseite, und dann ist es gleich hinter der Grünanlage das dritte oder vierte Haus, ein unscheinbarer, grauer Bau. Im Erdgeschoss, als gelte es, Klischees zu bestätigen, links eine Spielhalle, rechts ein türkisches Reisebüro. Dazwischen die offene Tordurchfahrt, die in die frühen Jahre der Industriestädte führt: Unter dunkelgrauem, kaltem Himmel rechts ein Seitenflügel, hinten das Quergebäude, beide vierstöckig, aus nacktem, schwarzrotem Backstein, nur spärlich verziert, schmale Simse in Höhe der Erdgeschosse und über den leicht gerundeten Fensterbögen. Etwas Archaisches hat das an sich; härter und reiner muss das Leben an solchem Ort gewesen sein. Rauchfahnen über der Stadt gehören dazu, kalte Räume, Matratzen auf dem Fußboden, gardinenlose Fenster. Auf den Fensterbrettern stapeln sich Aufrufe, hektographierte Broschüren; bis Mitternacht gearbeitet wird hier oft. Eines frühen Morgens, als es im Osten eben zu dämmern beginnt, finden sich auf dem Hof etliche Männer zusammen, Waffen werden verteilt. „So, gleich vier, geht los jetzt.“ Beide Hände am Gewehr, treten sie schweigend auf die Straße, schwärmen aus. In dem schmalen Raum zwischen ihnen herrscht schon die neue, bessere Ordnung. Fernab, hier und da, vereinzelte Schüsse – wie das Knallen verspäteter Silvesterböller.
Auch für mich wird es Zeit, den Hof zu verlassen. Von der Straße tönt ein Lautsprecher herüber. Demonstration? Geht es doch noch los? Aber nein, das ist keine jener stählernen Frauenstimmen, die bei solchem Anlass manchmal zu hören sind. Routiniert plappert ein Kundenwerber – schräg gegenüber wird, wie ich jetzt sehe, die Filiale einer Mobilfunk-Firma eröffnet.