von Peter S. Schönhöfer / Angela Spelsberg
Deutschland hat die höchsten Arzneimittelpreise weltweit, weil sich die Regierung aus ideologischen Gründen der Preiswillkür der Hersteller unterwirft oder diese im Gegensatz zu anderen EU-Ländern mit ungeeigneten Mitteln bekämpft. Würden in Deutschland die schwedischen Arzneimittelpreise gelten, dann hätten im Jahre 2009 die gesetzlichen Krankenkassen nicht 32,4 Milliarden Euro für Arzneimittel zahlen müssen, sondern fast zehn Milliarden Euro weniger. Der Beitragssatz für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) hätte von 15,5 auf 14,5 Prozent gesenkt werden können.
Im Gegensatz zu Deutschland verfolgen andere Staaten wie zum Beispiel die USA das kriminelle Marketing der Pharmaindustrie mit hohen Strafen und hohen Entschädigungszahlungen an Geschädigte konsequenter (siehe den ersten Teil dieses Beitrages: Das Blättchen vom 16.05.2011).
Leider hat neoliberales Profitstreben unter dem Schlagwort „Wettbewerbsfähigkeit“ auch die GKV erfasst – zum Schaden der Versicherten. Intransparente Rabattverträge der Kassen mit Herstellern teurer und deshalb zuzahlungspflichtiger Arzneimittel führen dazu, dass Versicherte auch dann Zuzahlungen zu Arzneimitteln leisten müssen, wenn der Arzt ein zuzahlungsfreies preiswertes Generikum verordnet. Die AOK steigert so ihre Profite, weil sie zum Hersteller-Rabatt zusätzlich auch noch die Zuzahlung des Patienten kassiert.
Noch bedenklicher ist die profitorientierte integrierte Versorgung, zu der die AOK Niedersachsen für 13.000 ihrer chronisch psychisch kranken Versicherten Verträge mit der I3G GmbH, einer Tochter der Pharmafirma Janssen-Cilag, geschlossen hat, weil diese eine kostengünstige Versorgung verspricht. Es ist zu befürchten, dass die Kostensenkung durch Verzicht auf aufwändige Psychotherapie und durch Ruhigstellung mittels Arzneimitteln erzielt werden soll, ganz im Sinne des Marketings des Arzneimittelherstellers. Proteste der in der Behandlung solcher Patienten erfahrenen Sozialverbände (Caritas, Diakonie Bundesverband, Dachverband Gemeindepsychiatrie und andere) und Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie) gegen die Überstellung der AOK-versicherten Patienten an die Pharmaindustrie konnten das AOK-Management nicht von dieser für AOK-Patienten gefährlichen Neuerung abhalten. Um Aufbau und Risiken (zum Beispiel Budgetüberschreitungen) des neuen „integrierten Versorgungsmodells“ finanzieren zu können, werden mit Hilfe des privaten Finanzdienstleisters Turgot Venture Mittel auf dem Finanzmarkt akquiriert. Diese Finanzierungsstruktur gibt zu gravierender Besorgnis Anlass, denn sie kann dazu missbraucht werden, Versorgungs- und Budgetrisiken zu verschleiern.
Spekulative Auf- und Weiterverkäufe solch intransparenter Risiko-Kapitalien (Derivate) waren eine entscheidende Ursache der jüngsten Finanzkrise, weil dadurch für lange Zeit eine wachsende Investitionsblase aufgeblasen werden konnte.
Nun werden erstmals mit Hilfe gesetzlicher Krankenkassen die teuren Kosten der Versorgung chronisch psychisch kranker Patienten „derivatisiert“ und an die Finanzwirtschaft ausgelagert, so dass in der profitorientierten „Gesundheitswirtschaft“ eine neue Investitionsblase entstehen kann. Das solidarische Gesundheitssystem wird in diesem Fall mittels des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes dazu missbraucht, mit den Beiträgen der Versicherten als Finanzquellen eine modische „Gesundheitswirtschaft“ zu alimentieren – bis auch diese Blase platzt und das Geld der Versicherten verbrennt.
Aus den dargestellten Sachverhalten lässt sich ableiten:
– Transparenzmängel ermöglichen es, dass im Gesundheitswesen an vielen Stellen eine innovative Versorgung mittels Irreführung und Betrug vorgetäuscht wird. Manipulation von wissenschaftlichen Daten zu Nutzen und Sicherheit neuer Wirkstoffe, Bestechung von Experten, Kauf von ärztlichen Verordnungen und Kickbacks kennzeichnen das oft kriminelle Marketing innovationsschwacher Produkte ebenso wie Falschangaben zu Wirksamkeit oder Anwendungsgebieten.
– In Deutschland erlaubt fehlende Transparenz der Arzneimittelpreise Preiswillkür der Hersteller und führt zu den weltweit höchsten Arzneimittelpreisen.
– Im Gegensatz zu den USA verfolgt und bestraft der deutsche Staat Pharmafirmen nicht konsequent und hinreichend bei kriminellem Marketing. Auch bei Klagen wegen Schäden durch Arzneimittel schützt der Staat seine Bürger unzureichend.
– Der Einzug von profitorientiertem Wettbewerbsdenken bei den gesetzlichen Krankenkassen führt nicht nur zur Belastung der Versicherten durch zusätzliche Kosten wie Zuzahlungen zu Arzneimitteln, sondern auch zur Auslagerung der Versorgung teurer GKV-Patienten in von der Pharmaindustrie angebotene Versorgungsstrukturen, in denen die Patienten angeblich kostengünstiger versorgt werden. Es gibt bei den dafür gegründeten intransparenten privatwirtschaftlichen Tochterunternehmen keine öffentliche Kontrolle, die verhindern kann, dass Kosteneinsparungen vor allem durch medikamentöse Ruhigstellung und Verzicht auf psychotherapeutische Resozialisierung realisiert werden. Auf diese Weise erschließt sich die Pharmaindustrie mit Hilfe der gesetzlichen Krankenkassen nicht nur den direkten Zugang zur Medikalisierung von Patienten, sondern auch zu den Beitragsgeldern der gesetzlich Versicherten.
All dies macht eine gesetzliche Verpflichtung zur umfassenden Offenlegung von Interessenkonflikten im Gesundheitswesen dringend erforderlich. Eine solche Verpflichtung böte eine Möglichkeit, problematische Einflussfaktoren und Strategien sowie deren Player zu erkennen, einzuschätzen, abzuwehren und vor allem in Entscheidungsgremien auszuschalten. Damit stände ganz konkret auch ein Hebel gegen profitorientierte Rabatt- und Versorgungsverträge zwischen GKV und Pharmaindustrie zur Verfügung, deren bisherige monopolistische Intransparenz für Korruption und Betrug zu Lasten der Versicherten Tür und Tor öffnet.
Schlagwörter: Angela Spelsberg, AOK, Gesundheitswesen, GKV, kriminelles Marketing, Peter S. Schönhöfer, Pharmaindustrie, Rabattverträge