Kein Schreiben ohne Lesen, postuliert der Autor Ulrich Johannes Schneider in seiner Betrachtung „Der Finger im Buch“. Kein Lesen ohne Unterbrechung, und kein Unterbrechen ohne Kenntlichmachen. Sei es durch ein Lesezeichen, ein Lesebändchen oder eben durch den Finger zwischen den Seiten. In jedem Falle verbirgt sich dahinter die Aufforderung zum Weiterlesen; irgendwann, irgendwo.
Was bewegt eigentlich zum Lesen? Ist es Neugier, Wissensdurst, Sensationslust? Bedürfnis nach Unterhaltung? Oder Flucht aus der Wirklichkeit in Träume und Illusionen? Jeder mag sich selbst befragen. – Was aber führt zur Unterbrechung der Lektüre, zum „Finger im Buch“? Ablenkung durch äußere Umstände, das Nachdenken über das Gelesene? Oder nur Müdigkeit nach einem anstrengenden Tag?
Über die Jahrhunderte hinweg findet man auf Porträts das Buch als schmückende oder aussagekräftige Beigabe. Von unbekannten Künstlern gestaltet und auch von den „Großen“ der Kunstgeschichte. Ulrich Johannes Schneider unterzog sich der Mühe, in Museen und Galerien nach Kunstwerken Ausschau zu halten, auf denen die Porträtierten ein Buch bei sich haben – und den Finger darin. An 30 Abbildungen von Gemälden, Kupferstichen, Skulpturen und Fotografien versucht er, die Ursachen des plötzlichen Innehaltens beim Lesen zu ergründen. Ein Unterfangen mit vielen Fragen. Ist eine davon beantwortet, so löst sie, wie bei einem Feuerwerk, neue unbeantwortete aus.
Auf den Bildnissen sieht man Wissenschaftler, Vertreter beider Kirchen, Dichter, Politiker, Philosophen, Damen und Herren der sogenannten „gehobenen“ Gesellschaft. Mithin ein der Bildung zugänglicher Personenkreis. –Daneben werden Einblicke gewährt in Lebensläufe, historische Abfolgen und soziale Einbindungen.
Raffaels „Madonna Alba“ hat sich mit den Kindern Jesus und Johannes ins Freie begeben und in einer lieblichen Landschaft niedergelassen. Eigentlich wollte Maria in erbaulichen Schriften lesen, doch dazu lassen ihr die lebhaften Knaben keine Zeit. Bei aller Frömmigkeit, aber sie weiß nie genau, was die beiden in der nächsten Minute anstellen werden. Sie kann nur rasch den Finger ins Buch stecken, um die Stelle eventuellen Weiterlesens wiederzufinden.
Andreas Vesalius, Naturforscher, Anatom und Chirurg der Renaissance. Hoch angesehen. Er gilt als der Begründer der modernen Anatomie, was er mit seiner epochemachenden Arbeit „Sieben Bücher über den menschlichen Körper“ unter Beweis stellte. Vesalius war beim Erscheinen des Standardwerkes 29 Jahre alt. Als er im 31. Lebensjahr stand, malte ihn Tizian. Es ist das Urbild eines Gelehrten. Mit dem forschenden, jedoch auch sinnenden Blick eines präzisen Beobachters. In der rechten Hand hält er den Zwicker. Hatten seine Augen bereits unter der Anstrengung gelitten? – Das dicke Buch von bibliophiler Kostbarkeit ist des Umfangs wegen auf den Tisch gestützt; und der Finger darin wohl weniger darauf bedacht, in Bälde wieder darin zu lesen, als vielmehr, um auf einen wichtigen Passus hinzuweisen. Ist es das Werk über den menschlichen Körper?
Angelika Kauffmann, geschätzte und von Goethe verehrte Malerin des 18. Jahrhunderts. Selber eine schöne Frau, porträtiert sie eine schöne Frau. Anne Loudon, Lady Henderson of Fordell. Eine junge Dame mit edlen Gesichtszügen, in ein weich fallendes Gewand gehüllt, und, um ihre Anmut noch zu erhöhen, von einer landschaftlichen Idylle umgeben. Liest sie in einem empfindsamen Roman? Das Buch liegt aufgeschlagen in ihrer Hand. Hat man die Schöne bei der Lektüre überrascht? Der Blick verrät, dass sich Anne Loudon noch nicht aus der Welt des soeben Gelesenen gelöst hat. Ist es ein Gast, der zwar bekannt, aber unbedacht ihre Kreise störte? Wer es auch sei, sie wird ihn freundlich begrüßen.
Im Park von Schloss Rosenborg in Kopenhagen steht ein Bronzedenkmal von Hans Christian Andersen. Der dänische Dichter, den man nicht nur als den unübertroffenen Märchenerzähler kennt, sondern auch als passionierten Reisenden, der viel über das unterwegs Gesehene und Erlebte berichtete. Hier aber, im Schlosspark, ist Hans Christian der große Erzähler. Er sitzt bequem. Der Mantelüberwurf liegt leicht auf der Schulter. In der linken Hand hält er ein Buch. Es ist geschlossen. Sicherlich war es geöffnet, um eines der Märchen auszuwählen. Den „Tannenbaum“? Oder „Die Schneekönigin“ oder den „Fliegenden Koffer“? Besser wohl „Des Kaisers Nachtigall“. Die Geschichte vom chinesischen Kaiser, der erst aus einem Buch erfuhr, dass in seinem Park eine Nachtigall lebte, die wunderbar sang. – Andersen erzählt aus dem Gedächtnis, er benötigt das Buch nicht mehr und hat es wieder geschlossen. Die rechte Hand belebt mit einer Geste seine Worte. – Wer das Denkmal im Park besucht und Glück hat, der kann vielleicht dem Dichter beim Vortragen zuhören. Sollte er nicht in Erzähllaune sein, so hört man gewiss das Zwitschern der Vögel.
Nun lautet die Kardinalfrage: Bleibt noch Zeit fürs Lesen? Der Autor schreibt: Lesen bildet, verändert, beschäftigt, entführt und regt an. Wer könnte sich diesem Angebot leichtfertig entziehen? Und wie häufig sollte man ein Buch zur Hand nehmen? Hin und wieder? Nach Lust und Laune? Peter Suhrkamp, der Verleger, schlug vor, täglich eine halbe Stunde würde dafür schon genügen. Und diese lässt sich doch – irgendwo und irgendwann – finden!
Ulrich Johannes Schneider: Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild, Piet Meyer Verlag AG, Bern / Wien, 2020, 177 Seiten, 28,40 Euro.
Schlagwörter: Kunstgeschichte, Lesen, Porträts, Renate Hoffmann, Ulrich Johannes Schneider