Der Symbolismus war Ausdruck einer fundamentalen Krise Europas. Im industriell aufsteigenden Belgien und seiner liberalen Metropole Brüssel trieb er um 1900 die wildesten Blüten. Eine Sonderschau der Alten Nationalgalerie Berlin feiert nun diese schräge, dabei visionäre Kunst.
Vergessen ist die Coolness unserer Tage, sobald man diese so extravagante wie emotionale Bilder-Erzählung des späten 19. Jahrhunderts in der Alten Nationalgalerie betritt.
Man durchwandert die 13 Räume und lässt sich hineinziehen in den Schlund der „Dekadenz und dunklen Träume“ (so der Ausstellungstitel), der aufgewühlten Gefühle und fantastischen Visionen, der ins Unheimliche getriebenen romantischen Landschaften mit bösen Monden und gespenstischen Bäumen. Noch nie zuvor wurde uns lakonischen Berlinern der belgische Symbolismus in dieser Wucht offeriert. Der Künstlerblick ins Abgründige, ins Exzessive, Wollüstige und Absurde verband sich damals mit Todessehnsucht, eine der Welt entfliehende Seelenschau mit Mystik und der aufkommenden Psychoanalyse.
Symbolismus in der Malerei und Bildhauerei: Ab den 1880er-Jahren waren das geballte Rätselhaftigkeit, abgründige Erotik und (Alb-)Traumwelten, in denen Tod, Sexualität und Verfall zu Leitmotiven wurden. Das „Symbolistische Manifest“ stammte allerdings nicht von einem Maler, sondern von einem Dichter: Jean Moréas hat es 1886 verfasst, veröffentlich wurde es in der Literaturbeilage der Tageszeitung Le Figaro. Es war eine künstlerische Reaktion auf die Verfasstheit eines in die Moderne aufbrechenden Europas.
Die Kunst zeigt sich hier als Spiegel einer fundamentalen Krise der Gesellschaften zwischen Dekadenz und den Verwerfungen durch die zunehmende Entfremdung der Arbeit im Maschinenzeitalter. Im industriell prosperierenden Belgien, in der Fin-de-Siècle-Stadt Brüssel – weniger hierarchisch determiniert als Paris, sozial kohärenter als Wien oder London – war diese Kunstform am stärksten ausgeprägt.
Das Wesen symbolistischer Kunst sei es, die Idee nie begrifflich zu fixieren, sie gar direkt auszudrücken. Mit anderen Worten: Geheimnis, beklemmende Ahnung, mystisches Raunen, Unerklärliches, Unterbewusstes – und Wollüstig-Narzisstisches, das alles steckt in dieser exzessiv emotionalen Kunst, wenige Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Angetrieben wurde der visuelle Symbolismus von der Literatur, den Werken Baudelaires, Mallarmés, Rimbauds, und von der Musik Richard Wagners. Dazu gesellten sich Sigmund Freuds Schriften zu Es, Ich und Über-Ich.
In Brüssel, seit den 1880er-Jahren ein Zentrum der Kunstrichtung mit dem Hang zum Morbiden und Dekadenten, lebten namhafte Protagonisten des Stils, der zeitgleich in Paris, Wien und München Furore machte. In der Alten Nationalgalerie nehmen die Bildwerke in ihrer Fülle einem für Momente fast den Atem. Die ausschweifenden Fantasien des Exzentrikers James Ensor oder die Bilderfindungen, mit denen Léon Spilliaert „die Seele“ und das Eigenleben alltäglicher Dinge darzustellen suchte. Es wirkt wie ein entschlossener Vorgriff auf den Surrealismus der 1920er.
Subtiler kommt die Mystik von Fernand Khnopff daher, ebenso der rauschhafte Okkultismus und die vergeistigte Seelenschau von Jean Delville. Nicht zu übersehen, da herrlich verrucht, sind die pornografisch aufgeladenen Femme-fatale-Satiren von Félicien Rops und seinem Jünger Albert Bertrand.
Das wäre nur ein halbes Dutzend der Symbolisten und der 180 Werke, zumeist Leihgaben der Königlich-Belgischen Kunstmuseen. Ralph Gleis, der Chef der Alten Nationalgalerie und Kurator dieser Sonderschau, hat als exemplarisches Bezugssystem etliche alte Bekannte unter das „belgische Abgrundgefühl“ gemischt: deutschen Symbolismus von Stuck, Böcklin und Max Klinger; österreichische Linienlust von Gustav Klimt; französische Geistespracht von Moreau und Rodin. Und Bilder des Norwegers Munch, dessen existenzialistischem Frauenbild – das rätselhafte, verführerische, begehrte und zugleich unnahbare weibliche Wesen – ohnehin im Zentrum aller symbolistischen Kunst steht. Dazu verhält sich Khnopffs vieldeutig-mysteriöses Horizontalgemälde „Die Zärtlichkeit der Sphinx“: Das Motiv des lasziv-gefährlichen Geparden-Weibes war Affront gegen die bigotten Moralkonventionen. Seine mythosschweren „Feenköniginnen“ (Acrasia und Britomart) wiederum können als Symbol für den „neuen Menschen“ und eine neue Spiritualität jenseits der christlichen Religionen gelesen werden.
Kern der symbolistischen Gedanken- und Bildwelt, kräftig gewürzt mit schwarzem Humor, ist der ewige Kreislauf von Geburt, Leben, Tod. Als Land der Sehnsucht erscheint das düstere Jenseits. Dafür greifen Bildhauer wie Georg Minne oder Maler wie Eugène Laermans sogar auf mittelalterliche Motive wie „Der Tod und das Mädchen“ von Hans Baldung Grien zurück. Auch der sonst so ironische Félicien Rops bedient sich bei alter Sakralkunst. Viele Bezüge entdeckt man außerdem zur pessimistischen metaphysischen Philosophie Schopenhauers, wenn es etwa um den Tod als Schicksal des Menschen geht, um die Schuldhaftigkeit des menschlichen Daseins oder um ein Glück, das in der Abwesenheit von Unglück bestehe.
Etwas Besonderes ist beim Gang durch die Ausstellung die Begegnung mit James Ensor. Folgt man dessen Bewunderer Otto Dix, der als junger Maler zu Ensor nach Ostende reiste und dort zum Schluss kam, dieser alte Maler sei „ein verfrühter Expressionist“, steht man nun vor Ensors „Malendem Skelett“ oder der farbschrillen Maskerade „Die Intrige“. Es bietet sich ein geniales Szenario von Rollenspielen, von Ver- und Entfremdungseffekten. Anrührende Monster, aufgebrezelte Ungeheuer und Gerippe bevölkern Ensors bizarre Paraden und den zeitkritischen Mummenschanz. Welches Gesellschaftsbild: der Mensch als sein eigener schlimmster Feind.
„Dekadenz und dunkle Träume“, Ausstellung bis 17. Januar 2021 in der Alten Nationalgalerie, Bodestr. 1–3, Di–So 10–18 Uhr. Besuch (mit Mund-Nasen-Schutz) derzeit nur mit Zeitfenster-Ticket: www.smb.museum/tickets.
Der imposante Katalog von Hirmer, mit 265 Farbabbildungen und klugen Essays namhafter Symbolismus-Experten, kostet 32,00 Euro.
Schlagwörter: Alte Nationalgalerie, Ingeborg Ruthe, Symbolismus