23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

Das Talkshow-Kartell

von Bernhard Romeike

Das Thema der Murmel-Runde am 4. Oktober bei Anne Will in der ARD lautete: „Trump mit Corona infiziert – welche Konsequenzen hat das für die USA?“. Als Diskutanten waren wieder einmal die Dampfplauderer Peter Altmaier (CDU), seines Zeichens Bundeswirtschaftsminister, und Cem Özdemir von den Grünen aufgeboten. Außerdem Stefan Niemann, den man ohnehin allabendlich als Trump-Entlarver aus dem ARD-Studio in Washington sehen kann. Darüber hinaus war wieder der Republikaner Roger Johnson eingeladen, der etwas behäbige und schlichte Vizepräsident von Republicans Overseas in Europa, der als einziger versuchte, an Donald Trumps Politik ein gutes Haar zu lassen. Neu waren Frau Rachel Tausendfreund vom German Marshall Fund, eine US-Amerikanerin, die unter anderem an der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder studiert hat, sowie Britta Waldschmidt-Nelson, Professorin für „Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraums“ – was immer das sein mag – an der Universität Augsburg. Beide spielten voller Verve die im Drehbuch vorgesehene Anti-Trump-Rolle.

Interessanter als diese „Debatte“ waren die Kommentare des Publikums, die zuvor schon auf Wills Webseite zu lesen waren. So schrieb ein Philipp: „Mensch, Anne Will & Co!!! Haben wir keine anderen Probleme, Sorgen und Themen in und für Europa als dass man der Corona-Erkrankung von Trump eine ganze Sendung widmen muss??? Ich finde das furchtbar und enttäuschend!“ Ebenso Anno: „In der hier angekündigten Runde ist jedoch jede Diskussion pure Spekulation und damit vollkommen sinnfrei. Verschwendete Sendezeit.“ Hugo Wolf betonte: „Haben wir nicht selbst Corona-Probleme oder gar gänzlich andere zum Tag der Einheit? Ist alles bei uns Tuttipaletti? Mich interessiert das Problem Trump genauso als wenn in China ein Reissack oder in Mexiko ein Sack Mais umfällt. Viel erschreckender finde ich unser gestörtes Verhältnis zu Russland.“ Gerhard wusste bereits um 18.21 Uhr, da hatte die Sendung längst nicht angefangen: „Die vor der Kamera heute Abend sind gegen Trump und hier im Forum viele für Trump.“ Und so kam es ja denn auch. Montgomery stöhnte: „Und schon wieder Altmaier und Özdemir. Gibt es keine anderen Poltiker, die gecastet worden sind und an einer Talkrunde teilnehmen können? Immer und immer dieselben Gäste bringen uns in der Diskussion nicht weiter.“ Ähnlich Conrad Goerg: „Mein Gott, schon wieder dieser ewige Altmaier. Wird er deshalb immer eingeladen, weil er als Junggeselle Sonntagabend Zeit hat? Was soll der denn Kompetentes zu diesem Thema beitragen außer ein paar Gemeinplätzen? Als Vertreter der Regierung wird er das übliche BlaBla von den gemeinsamen Interessen und den im Prinzip guten Beziehungen und dem Interesse der Bundesrepublik an dem amerikanischen militärischen Schutzschild erzählen. Was sonst noch?“ Eine Bürgerin fragte, „ob sie in den Staaten wohl auch eine einstündige Gesprächssendung machen, wenn in Deutschland die Chefin ein Hospital aufsucht?“ Michael P. stellte fest: „Trump und unsere Medien, eine unendliche Geschichte. Was würde unsere Presse schreiben, gäbe es nicht Trump? […] Am liebsten wird über seine angebliche Unfähigkeit, sein Verhalten, seine Einstellung zur Wahrheit und jetzt natürlich über seinen Gesundheitszustand schwadroniert. Das blattfüllende Thema ‚Trump‘ scheint bestens geeignet, um der regierungsnahen Presse eine der wichtigsten Aufgaben zu ersparen, nämlich den Finger in die Wunde einer fehlgeleiteten Politik im eigenen Land zu legen.“ Und Empörtbürger stöhnte: „Hört endlich auf mit diesem Trump-Thema!“

Hier waren wieder einmal die Bürger klüger, als die Schwadronier-Runde. Wenn man bedenkt, dass das eine moderierte Kommentarseite ist, bei der Will sich vorbehält, Kommentare auch nicht freischalten zu lassen, so ist klar, das das Nachzulesende nur die Spitze des Eisbergs der Unmutsäußerungen des Publikums war. Fazit: Ein unsinniges Thema, das nur die staatspolitisch gewollte Anti-Trump-Propaganda bedient; überwiegend wieder dieselben Plaudertaschen; Ablenkung von den Problemen im eigenen Land.

Dieses Ereignis und seine Wahrnehmung bestätigten die Ergebnisse einer jüngst erschienenen Studie. Träger ist ein Verein in Berlin, der sich „Das Progressive Zentrum“ nennt – wobei „Progressiv“ hier eher nicht in linken Traditionen in Deutschland zu verorten ist, sondern im Sinne des „Center for American Progress“, eines Think Tanks, der zum Umfeld der Familie Clinton gehört und dem John Podesta vorsteht, Bill Clintons letzter Stabschef im Weißen Haus. Der Titel der Studie lautet, etwas barock: „Die Talkshow-Gesellschaft. Repräsentation und Pluralisierung in öffentlich-rechtlichen Polit-Talkshows“, die Autoren heißen Paulina Fröhlich und Johannes Hillje.

Für die Studie wurden 1.208 Sendungen ausgewertet, die zwischen März 2017 und März 2020 ausgestrahlt wurden, sowie Sendungen in der „Hochphase der Corona-Pandemie“ (4. März – 24. April 2020). Der Schwerpunkt lag auf vier Sendungen, die als „Big 4“ des Talkshow-Wesens bezeichnet werden: Anne Will, Plasbergs „hart aber fair“, Maischberger und Maybrit Illner; hinzu kamen Auswertungen von Sendungen von Markus Lanz sowie der „Phoenix-Runde“. Im Jahre 2020 gibt es nur noch zwei Abende in der Woche, an denen es keine Gesprächsrunde in ARD oder ZDF gibt. Die Reichweite der Talkshows ist allerdings tendenziell zurückgegangen. Anne Will, die die höchste Einschaltquote hat, erreichte 2019 durchschnittlich 3,3 Millionen Zuschauer, 2016 waren es noch über vier Millionen, Günter Jauch hatte in seinen erfolgreichsten Jahren fünf Millionen Zuschauer mit dieser Sendung. Zugleich ist davon auszugehen, dass in den gedruckten und gesendeten sowie den sogenannten sozialen Medien „Nachbereitungen“ der Sendungen erfolgen, so dass sich einerseits der Einfluss auf die Meinungsbildung im Lande nicht messen lässt, andererseits jedoch die politische Reichweite größer ist, als die Einschaltquote abbildet. 

Die Auswertung der Gästelisten ist das aufschlussreichste Ergebnis. Im Jahre 2019 waren 38 Prozent der Talkshow-Gäste Frauen – was dem gesellschaftlichen Durchschnitt widerspricht. Insgesamt – bezogen auf alle ausgewerteten Sendungen – kommen 85 Prozent der Diskutanten aus dem Westen, 15 Prozent aus dem Osten Deutschlands – was etwa der Bevölkerungsproportion entspricht, aber die Artikulation ostdeutscher Standpunkte fortgesetzt erschwert. Zwei Drittel kommen aus Politik und Journalismus, was bedeutet: normalerweise diskutiert die politische Klasse unter Hinzuziehung ihrer Gehilfen in der Medienwelt mit sich selbst. 6,4 Prozent kommen aus der Wirtschaft, unter denen wiederum 80 Prozent aus Unternehmen, Branchenverbänden und Arbeitgeberverbänden kommen, dagegen nur 8 Prozent von Gewerkschaften, bezogen auf das Gesamttableau also etwa 0,5 Prozent.

Am Ende konstatieren die Verfasser der Studie eine „Entfremdung von [diesen] Medien“, eine „Krise der Repräsentation“, die Ausdruck der „Krise der Demokratie“ in diesem Lande ist. Die Gästelisten der Talkshows bilden die Diversität der Gesellschaft, der Meinungen und Interessen nicht ab. Zugleich will das öffentlich-rechtliche Fernsehen immer wieder neu „das Thema der Woche“ setzen und folgt der vermuteten Mainstreamlinie der Politik. Mit der Gästeauswahl wird eine Entscheidung darüber getroffen, wer zu dem Thema (angeblich) etwas zu sagen hat. Im obigen Beispiel also Altmaier versus Özdemir – über Trump, über den sie aktuell nichts wussten. Mit der Art und Weise, wie das Thema zugeschnitten wird, wollen diese Medien zudem präsentieren, wie es betrachtet werden soll, was man Neudeutsch „Framing“ nennt. Da das Publikum dieses Treiben immer deutlicher durchschaut – siehe unsere obige Kommentar-Auswertung – wird die Entfremdung von den öffentlich-rechtlichen Medien nicht kleiner, sondern größer. Je mehr also der Eifer gesteigert wird, die Diskussionsströme zu kanalisieren, desto geringer der Effekt. Das aber mussten die Genossen in der Abteilung Agitation/Propaganda im ZK der SED Ende der 1980er Jahre auch schon feststellen.