Der Berliner Fotograf Roger Melis (1940–2009) gehörte zu den Mitbegründern des ostdeutschen Fotorealismus. Bekannt geworden war er in Ost und West vor allem durch seine zahlreichen Autoren- und Künstlerporträts. Außerdem wurde er für seine nüchternen Fotoreportagen in der Wochenpost und der Modezeitschrift Sibylle geschätzt. Im Frühjahr 1982 bekam Melis die Gelegenheit, einen Monat nach Paris zu reisen. Gleich am ersten Tag seiner Ankunft stürzte er sich mit seiner Kamera in das Pariser Straßenleben. Als fotografierender Flaneur war er manchmal bis zu dreißig Kilometer am Tag zu Fuß unterwegs. Nach den vier Wochen hatte er mehr als einhundert Kleinbildfilme belichtet.
Nach seiner Rückkehr ging Melis mit den ersten Abzügen zum Verlag Volk und Welt, wo man erstaunlich schnell übereinkam, daraus ein Buch zu machen. Doch es sollte noch zwei Jahre dauern, bis der Bildband „Paris zu Fuß“ mit einem Geleitwort von Stephan Hermlin in einer stattlichen Startauflage von immerhin 20.000 Exemplaren erschien. 1986 folgte noch eine großformatige Paperback-Ausgabe. Beide Ausgaben waren in kürzester Zeit vergriffen.
Nach mehr als dreißig Jahren nun eine zweisprachige Neuausgabe (deutsch/englisch) im Leipziger Lehmstedt Verlag. Der historische Wert der Originalausgabe, die damals auf das Publikum und die Verhältnisse in der DDR zugeschnitten war, wird durch die Neuausgabe allerdings nicht angetastet. Grundlage für die aktuelle Auswahl stellte das gesamte Bildmaterial dar, das Melis aus Paris mitgebracht hatte. Neben den besten Fotografien der Erstveröffentlichung umfasst die neue Ausgabe auch 30 bislang nicht publizierte Aufnahmen aus dem Nachlass. Die Auswahl hat der Herausgeber Mathias Bertram getroffen, ein langjähriger Weggefährte und der Nachlassverwalter von Roger Melis. Mit seinem einleitenden Essay „Roger Melis in Paris“ vermittelt Bertram einige Information zu Melis’ Paris-Aufenthalt und zur Entstehung der DDR-Ausgabe. Den Anstoß zu der Neuausgabe gab allerdings die französische Fotokuratorin Sonia Voss, die in ihrer Einführung „Paris – jenseits der Klischees“ betont, dass Melis’ Fotos „die Vorstellung von der Stadt als eines vielschichtigen gesellschaftlichen Raumes vermitteln wollen.“ Melis, der eine Abneigung gegen Künstlichkeit hatte, interessierte sich weniger für die Sehenswürdigkeiten der Seine-Metropole; Eiffelturm oder Notre-Dame waren für ihn keine Pflichtübungen. Auf seinen Schwarz-Weiß-Fotos hielt er als stiller Beobachter vielmehr das turbulente Geschehen auf den Straßen und Plätzen fest – mit besonderer Vorliebe für die Peripherie der Stadt. Es sind Schnappschüsse des alltäglichen Lebens, aufgenommen in Cafés, in Metro-Stationen, auf dem Pariser Großmarkt oder am Ufer der Seine, bevölkert von Straßenkünstlern, Schulkindern, Polizisten, Marktfrauen, Restaurantbesuchern oder einfach Straßenhunden. Falls Melis doch einmal vor dem Louvre oder dem Centre Pompidou seine Kamera benutzte, dann interessierten ihn lediglich die Passanten. Ihn faszinierten die Vielfalt der Eindrücke und die Lebendigkeit der Stadt. In einer kleinen Fotoserie begleitete Melis außerdem einen Demonstrationszug zum 1. Mai auf dem Boulevard Montmartre. Eingeleitet und abgeschlossen wird die Neuerscheinung jeweils durch ein Selbstporträt.
Der Fotoband, der anlässlich des 80. Geburtstags von Roger Melis erscheint, ist gleichzeitig Begleitkatalog zu der Ausstellung „Paris zu Fuß“ in der Galerie „argus fotokunst“ in Berlin vom 18. September bis 30. Oktober im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie 2020.
Roger Melis: Paris zu Fuß – Paris by foot, Lehmstedt Verlag Leipzig 2021, 152 Seiten, 30,00 Euro.
Schlagwörter: Fotografie, Manfred Orlick, Paris, Roger Melis