23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

Ignorante Verehrung für einen Admiral

von Dieter Hartwig

Hoch oben im Norden unserer Republik pflegt die Marine das Andenken des Admirals Rolf Johannesson (1900–1989), in dessen Lebenserinnerungen „Offizier in kritischer Zeit“, 1989 erschienen, es heißt: „Besonders wichtig war mir die völlig objektive Darstellung kriegsgeschichtlicher Ereignisse, die ganze Wahrheit und die Erziehung zur Zivilcourage. […] Immer wieder schärfte ich meinen Offizieren ein: Im Kriege Mut, im Frieden Zivilcourage zu haben als unabdingbare Eigenschaft eines Offiziers.“ Und er hoffe, Ciceros Mahnung entsprochen zu haben, „nur die Wahrheit zu sagen, aber auch keine Wahrheit zu unterdrücken.“

Dieses Credo begründete das Vertrauen in den ersten Befehlshaber der bundesdeutschen Flotte und in seine „Lebenserinnerungen“ – bis 2017 bekannt wurde: Johannesson bestätigte als Gerichtsherr Seekommandant Elbe-Weser das Todesurteil für fünf Männer. Sie wurden am 21. April 1945 hingerichtet, nachdem bereits eingetreten war, was sie verhindern wollten, nämlich die Zerstörung Helgolands. Darüber hatte Johannesson nie gesprochen, geschweige denn geschrieben.

Etwas vereinfacht gesagt waren alle Soldaten der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg freiwillig oder unfreiwillig mehr oder weniger in die Verbrechen des Krieges einbezogen. Verfahren gegen Militärrichter und Gerichtsherren, die Todesurteile zu verantworten hatten, wurden eingestellt oder die Betroffenen freigesprochen. Johannesson wurde nur einmal mit den Todesurteilen vom 21. April 1945 konfrontiert, nämlich 1953 wegen des Entschädigungsanliegens der Witwe eines der Helgoländer Opfer. In seiner Antwort schilderte Johannesson nüchtern den gescheiterten Verschwörungsablauf, rechtfertigte sein Handeln mit den besonderen Zeitumständen, befürwortete aber den Versorgungsanspruch. Dieses Dokument ist der einzige Beleg für seine Verantwortung für diese späten Todesurteile. Alle Kriegsgerichtsakten aus diesem Kommandobereich „mit politischem Gehalt“ wurden Anfang Mai 1945 vernichtet. Zu einem Todesurteil vom 11. Januar 1945 wird von Johannessons Fürsprechern angeführt, dies sei vom Oberkommando der Kriegsmarine bestätigt worden – also Johannesson dafür nicht verantwortlich. Unbeachtet bleiben die Einflussmöglichkeiten der Gerichtsherren auf „ihre“ Gerichte. Fürsprecher meinen, er habe die Todesurteile nicht bewusst verschwiegen, sondern schlicht vergessen. Aber an Helgoland erinnerte er sich in seinen Lebenserinnerungen genau – an die ehemalige britische Gouverneursvilla oder das „barbarische“ Bombardement der Engländer am 19. April 1945.

Das war der Tag nach der Festnahme der „Verschwörer“ beziehungsweise verhinderten „Retter Helgolands“, die in der Nacht vom 18. auf den 19. April wegen der Inselzerstörungen aufs Festland gebracht wurden. Am 21. April fand vormittags in Cuxhaven die kriegsgerichtliche Verhandlung statt. Das Todesstrafen-Urteil bestätigte Johannesson mittags, und abends wurden die fünf Männer in Sahlenburg hingerichtet. Einen Verteidiger hatte es nicht gegeben, der Bitte des Militärpfarrers um Aufschub wurde nicht gefolgt. Dem strengen Gerichtsherrn war entgangen, dass die „Retter Helgolands“ genau das wollten, was Großadmiral Karl Dönitz noch am Tage ihrer Festnahme angeordnet hatte, nämlich die Nordseehäfen einschließlich Helgoland nicht zu zerstören. Stattdessen handelte er drei Tage später nach früheren Befehlen, wonach unerbittliche Härte angezeigt wäre. Den „stillen Schwur aller Marineoffiziere“ (Großadmiral Raeder): „Nie wieder einen November 1918!“ hatte er verinnerlicht, also: Bis fünf nach zwölf durchhalten, statt rechtzeitig aufzugeben.

Anlässe, sich der Todesurteile vom 21. April 1945 zu erinnern, gab es immer wieder: Admiral Rogge (1965) und Kommodore Petersen (1953) sowie zwei weitere Offiziere wurden wegen ähnlicher Vorwürfe angeklagt, aber freigesprochen oder die Verfahren eingestellt. Auch gab es 1965 einen BILD-am-Sonntag-Artikel zum Helgoland-Fall.

Die Traditionsrichtlinien der Bundeswehr von 2018 stellen fest: „Für die Streitkräfte eines demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig.“ Außerdem pflegt die Bundeswehr keine Tradition von Personen, die nach heutigem Verständnis verbrecherisch, rassistisch oder menschenverachtend handelten. Die Aufnahme einzelner Angehöriger der Wehrmacht in das Traditionsgut der Bundeswehr soll grundsätzlich möglich sein bei eingehender Einzelfallbetrachtung unter sorgfältigem Abwägen zwischen persönlicher Schuld und Leistung, die vorbildlich oder sinnstiftend in die Gegenwart wirkt, wie die Beteiligung am militärischen Widerstand oder besondere Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr.

Im Falle Johannesson schien die Vorbildhaftigkeit gegeben auf der Grundlage seiner Autobiographie sowie in Anrechnung der von ihm eingeführten Historisch-Taktischen-Tagung der Flotte, wo seit 1957 alljährlich vor allem marinegeschichtliche Themen vorgetragen und diskutiert werden, durchaus mit Gewinn auch für eine kritische Geschichtsbetrachtung. Nachdem aber 2017 Johannessons von ihm selber stets beschwiegene Verantwortung für späte Todesurteile bekannt geworden war, gerieten auch seine Lebenserinnerungen unter kritischere Betrachtung. So ist der von ihm behauptete scharfe Gegensatz zu Großadmiral Dönitz vom November 1944 zweifelhaft, denn Johannesson wurde am 30. Januar 1945 als Zweiter (und Letzter) seines Offiziersjahrgangs zum Admiral befördert und die Beförderung karrierefördernd auf den 1. Januar 1945 vordatiert. Seine Bemerkung zum Personalgutachterausschuss: „Da ist mancher durch das weite Netz des PGA hindurchgeschlüpft, der es nichtverdient hat“, muss man heute auch auf ihn beziehen.

Pikant ist der Streit um die von ihm selbst behauptete Zugehörigkeit zur Legion Condor als Standortältester und Abwehrchef in Salamanca, Francos Hauptquartier: „J. war formal nicht zugehörig“, so das Bundesministerium der Verteidigung und Johannessons Fürsprecher, weshalb der vom Bundestag 1998 beschlossene Ausschluss von Angehörigen der Legion Condor von der Traditionspflege der Bundeswehr für ihn nicht gilt.

Ein weiterer Taschenspielertrick: Ohne bewegt zu werden, steht die Büste von Johannesson jetzt in der wehrgeschichtlichen Ausstellung – indem die Aula der Marineschule für Offiziere in Flensburg-Mürwik zu einem Teil dieser Unterrichtsausstellung erklärt wurde. So mutierte Johannesson vom Vorbild zu einem Offizier mit einer „gebrochenen Biografie“ – jedenfalls im Unterricht für die Offiziersanwärter. Ob dabei auch der krasse Widerspruch zwischen Wahrheits-Credo und Beschweigen eigener Wahrheit angesprochen wird? Vor der Aula liest man: Johannesson „bestätigte als Gerichtsherr Mitte April 1945 auch fünf Todesurteile gegen eine Helgoländer Widerstandsgruppe“. Sein Schweigen darüber wird ein paar Zeilen tiefer auch erwähnt – aber nicht problematisiert. Die Botschaft an die Offiziersanwärter der Marine scheint zu sein: Der laxe Umgang mit der Wahrheit ist eine lässliche Sünde eines Offiziers mit „gebrochener Biographie“. Offen bleibt, wie zivile Besucher die Büsten-Präsentation auf hohem Sockel verstehen, zumal diese Büste zwischen jener des Admiral Dieter Wellershoff (1933–2005) und der des Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder (1908–1944), hingerichtet wegen Zugehörigkeit zum „20.Juli 1944“, steht – ein hingerichteter Widerständler neben einem Admiral, der Widerständler hinrichten ließ.

Sehr problematisch verhält es sich auch mit dem „Admiral Johannesson-Preis“ – was sagt einem lehrgangsbesten Offiziersanwärter ein Preis, der nach einem Mann mit solch „gebrochener Biografie“ benannt ist? Den Preis müsste die Marine-Offizier-Vereinigung als Stifterin umbenennen. Weil dies aber steht nicht zu erwarten ist, müsste die Marine die Verleihung in ihrem Verantwortungsbereich untersagen. Angesichts des Umganges der Marine mit der ebenfalls von der MOV gestifteten Büste ist dies sehr unwahrscheinlich.

Weder viele differenzierende Eingaben an die Bundeswehrführung und an Politiker, noch Presseberichte oder eine von rund 120 Personen unterzeichnete Resolution konnten am Aufstellungsort der Büste wie am Namen des Preises etwas ändern. Somit bleibt es bei der ignoranten Verehrung für einen Admiral.

Dr. Dieter Hartwig, geboren 1943, war als Marineoffizier Geschichtslehrer an der Marineschule Mürwik sowie an der Führungsakademie der Bundeswehr und nach der Pensionierung (1993) u. a. Beratender Historiker beim Deutschen Marinebund, Kindergartengeschäftsführer und Kommunalpolitiker in Kiel. 2010 veröffentlichte er „Großadmiral Karl Dönitz; Legende und Wirklichkeit“.