von Erhard Crome
Mitte Juni machte die Meldung die Runde, dass den Bombardierungsmächten gegen Libyen die Munition ausgeht. Nicht einmal das können sie. Der historisch informierte Beobachter erinnert sich, dass er gelesen hat, im September 1914 informierten besorgt, nahezu zeitgleich, die Armeeführungen Frankreichs, Russlands und Deutschlands ihre respektiven Regierungen, dass bei dem angeschlagenen Tempo der Kriegsführung die Munition bald alle sein werde, wenn nicht dringende Maßnahmen getroffen würden. Der Krieg hatte Anfang August 1914 begonnen.
Als erste Reaktion fällt einem da das berühmte Diktum (das sich ja auch bei Marx findet) von der Doppelerscheinung wichtiger historischer Ereignisse ein: einmal als Tragödie und einmal als Komödie. Dann wäre das damals die Tragödie gewesen, und Sarkozy und seine Kriegskumpane wären heute die Komödianten. Eine solche Sichtweise wäre allerdings ungerecht gegenüber den Toten in Tripolis und anderswo in Libyen – deren Vorhandensein uns die hiesigen Medien beflissentlich zu unterschlagen trachten –, weil die ja tatsächlich tot sind. Und das ist tragisch für sie, ihre Angehörigen und die Humanität. Außerdem wissen wir ja noch gar nicht, ob das jetzige Kriegstreiben nicht lediglich Vorbote viel gewaltigerer Tragödien des 21. Jahrhunderts ist, gegen die die Untaten des 20. Jahrhunderts Kleinkram gewesen sind. Insofern wäre zunächst ein Verbot zu erwirken, um das Diktum von Tragödie und Komödie mal für mindestens fünf Jahre in der Asservatenkammer verschwinden zu lassen.
Es bleibt, dass Militärplaner immer denken, es ginge nicht nur siegreich, sondern auch noch schnell und mit nur geringen eigenen Opfern. Der deutsche Sieg im ersten Weltkrieg verflüchtigte sich bereits Ende August, Anfang September 1914, als es nicht gelang, nach Paris vorzustoßen. Dann trat das Munitionsproblem auf. Und als die deutschen Truppen im November 1941 vor Moskau im Winter einfroren, hatten sie noch die Sommeruniformen an. Winterausrüstung war nicht vorgesehen, weil sie ja längst gesiegt haben sollten. Nun gibt es im Libyenkrieg ein Munitionsproblem. Dabei haben sich jetzt höchstgerüstete, hypermoderne Angriffsstreitkräfte „des mächtigsten Militärbündnisses der Weltgeschichte“ (O-Ton NATO-Propaganda) auf ein kleines Land gestürzt, dessen Streitkräfte denen der Angreifer in keiner Weise ebenbürtig sind, während damals vergleichsweise gleich starke Streitkräfte aufeinanderstießen.
Auch hier aber haben die Militärplaner das Maul wieder zu voll genommen. Die Bombardierungen libyscher Ziele halten jetzt seit über drei Monaten an. Und, was haben sie erreicht? Einen großen Teil der zivilen Infrastruktur der vor dem Krieg modernen, gut versorgten Stadt Tripolis zustört, viele Menschen getötet, ab und zu auch verbündete „Aufständische“, aber das macht ja eigentlich nichts, die Araber sind sowieso kaum zu unterscheiden, zumindest wenn man durch die Zielgeräte der hypermodernen Waffensysteme oder durch die aus kolonialer Erfahrung gestärkte Herren-Brille schaut.
Warum haben die eigentlich gedacht, dass es schnell geht? Als die US-Truppen Irak eroberten, haben sie nicht nur gebombt, sondern Bodentruppen eingesetzt. Hier meinte man, der Gaddafi, der bunte Vogel, werde schon bald klein beigeben. Dazu braucht es keine Bodentruppen. Bomben reicht. Der Milosevic hatte ja auch nach ein paar Wochen praktisch kapituliert. Dass diese Art Kriegsführung verbrecherisch ist, wurde damals nicht diskutiert. Den Sieger fragt keiner, ob er zu Recht gesiegt hat, sagen sich die Kriegsherren gern. Diese Bomberei aber, 1999 gegen Jugoslawien, 2011 gegen Libyen, ist inzwischen ein eigenartiges kriegsgeschichtliches Phänomen. Der Vergleich mit den Bombenangriffen gegen Deutschland im zweiten Weltkrieg verbietet sich – Deutschland war ein mächtiger, kriegführender Staat. Den Bombenterror hatte Deutschland erfunden, im ersten Weltkrieg erstmals versucht, im Spanienkrieg 1937 modernisiert, dann ab 1939 gegen Warschau, Rotterdam, Coventry, Belgrad und anschließend viele Städte in der Sowjetunion immer weiter perfektioniert. Da kam mit den britischen und US-amerikanischen Bomben nur etwas zurück, das man selbst auf den Weg gebracht hatte. Und, wie gesagt, die gegenseitige Bombardiererei war Teil des „totalen Krieges“, den militärisch ähnlich starke Staaten gegeneinander führten. Jugoslawien dagegen 1999 oder Libyen heute hatten nie eine Chance, die Bomben gegen Belgrad oder gegen Tripolis mit Bomben gegen Paris, London oder Washington zu beantworten.
Hier ist das Wort von dem „asymmetrischen Krieg“ wörtlich zu nehmen. Die westlichen Kriegsführer entscheiden, was sie wann wie niederbomben. Sie haben nur eigene innere Hemmfaktoren, keine, die in der Kriegsführungsfähigkeit der bombardierten Seite liegen. Zu diesen Hemmungen gehören die Meineide, es ginge nur gegen militärische Ziele, dann das Völkerrecht und das Kriegsvölkerrecht, das eigentlich den Schutz der Zivilbevölkerung gebietet, die kritische demokratische Öffentlichkeit im eigenen Land und schließlich die Weltöffentlichkeit. Russlands Präsident Dmitri Medwedjew hat gerade gesagt, dass der Westen mit seiner „sinnlosen Militäroperation“ aus der Libyen-Resolution des UNO-Sicherheitsrates einen „Käsezettel“ gemacht hat, und wenn er gewusst hätte, was der Westen aus der Resolution macht, hätte er den russischen Diplomaten in der UNO andere Weisungen gegeben. Auch dies ein Grund, weshalb Russland eine Resolution zu Syrien nicht zulässt.
Im Grunde hat ein solches Bombardieren eine ethische oder moralische Qualität, wie Brecht sie in seiner Parabel vom „Kaukasischen Kreidekreis“ angelegt hat. Dort geht es darum, dass zwei Mütter um ein Kind streiten; es wird mit Kreide ein Kreis gezogen, das Kind in den Kreis gestellt und beide Mütter sollen gleichzeitig an dem Kind ziehen, um es zu sich zu holen. Schließlich lässt die eine Frau los, weil sie den Schmerz des Kindes nicht aushält. Der Richter aber gibt das Kinder nicht der, die es zu sich gerissen hatte, sondern jener, die losließ, weil sie die größere Liebe empfand.
Kehren wir zurück zum Bomben, so ist die schrittweise Zerstörung der Infrastruktur, der Radiostationen, der Brücken, der Versorgungseinrichtungen des bombardierten Landes darauf angelegt, dass der Staatschef all die Zerstörungen nicht mehr mit ansehen kann und schließlich aufgibt. Die Bombenmächte heucheln zwar, sie täten das Bomben wegen der Menschenrechte, der Freiheit und der Menschenliebe. Aber sie sind nicht bereit loszulassen vom Bomben. Der strategische Ansatz, die Lebensbedingungen des libyschen Volkes zu zerstören, damit Gaddafi verzichtet, geht davon aus, dass Gaddafi das libysche Volk mehr liebt, als es die Bombenmächte tun, und am Ende diese Zerstörungen nicht mehr mit ansehen kann. Dann aber sind die Angreifer die Feinde des libyschen Volkes und Gaddafi dessen Freund. Dieses moralische Paradoxon liegt der Bombenpolitik des Westens zu Grunde. Daraus ergibt sich zwingend die Schlussfolgerung, einer solchen Bombenpolitik niemals wieder einen Freibrief zu geben.
Indes, Gaddafi hat bisher nicht aufgegeben. Er ist immer noch da. Und seine Anhänger demonstrieren für ihn, trotz der Bomben. Im Grunde ist er bereits der Sieger, weil er nach drei Monaten – und damit länger unter westlichem Bescuss als Gamal Nasser und Saddam Hussein zusammen – immer noch da ist. So kann er denn doch noch in die Geschichte als arabischer Führer eingehen, der dem hochgerüsteten Westen die Stirn geboten hat. Jedenfalls hält ihn das wohl aufrecht. Und Obama kann derweilen seine neue Nahostpolitik vergessen, auch wenn ihm sein Parlament die Mittel für die weitere Kriegsführung gegen Libyen doch noch streichen sollte.
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