23. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2020

Handel im Wandel

von Erhard Weinholz

Früher … früher … früher hatten wa ooch n Kaisa“, sagte man einst in Berlin, wenn jemand dieses Wort im Übermaß benutzte. Wir lassen uns davon nicht verdrießen und heben mit eben diesem Wort zu erzählen an: Früher, vor hundert Jahren und mehr, fand man in den Städten überall kleine Läden; wo sich alter Putz erhalten hat, lesen wir noch heute „Colonialwaaren-Handlung“, „Dampfbäckerei“, „ff. Cigarren“. Auch eine meiner Urgroßmütter führte so ein Geschäft, verkaufte in meiner Heimatstadt, der Chur- und Hauptstadt Brandenburg, Grünzeug aller Art. Auch Bananen, Apfelsinen, Ananas gar? Aber das waren ja schon Delikatessen. Als Kind könnte sie sie noch genossen haben: Selma, geborene Wirth, war die Tochter eines Potsdamer Ziegeleibesitzers, der um 1860 Bankrott gegangen ist. Ein altes braunstichiges Foto zeigt sie vor der schmalen Ladentür nahe beim Altstädtischen Rathaus, wo heute der Roland steht, eine kleine Frau mit vorgebundener Schürze. Ihr Mann, der Webermeister Hermann Weinholz, saß derweil nicht am Webstuhl, sondern war als Meister angestellt in einem der großen Textilbetriebe dort. Gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts erlagen sie alle dem Druck der britischen Konkurrenz; vielleicht musste das Geschäft dann die Familie ernähren. „Ist der Laden noch so klein, er bringt doch mehr als Arbeit ein.“ So hieß es damals.

Die letzten dieser Art in Berlin (Ost), privat von alten Damen betrieben, habe ich in den siebziger Jahren entdeckt, einen hinter der Weißenseer Spitze, einen anderen am U-Bahnhof Friedrichsfelde. Was im Schaufenster stand, passte zum Angebot an Waren des täglichen Bedarfs, das auf der Ladentheke und in den Regalen dahinter seinen Platz hatte: Zucker, Nudeln, Büchsen mit Erbsen oder Linsen und fettem Speck, säuerlich riechendes Brot – lebte man bescheiden, reichte es allemal. Die Fensterscheibe ersetzte den Prospekt: „Frische Eier Stück 12 Pfennige“. Und eines Tages stand dort in Kreideschrift: „Wir danken unserer Kundschaft für die langjährige Treue.“

Die meisten Läden in Berlin (Ost) gehörten zu der Zeit schon der HO oder dem Konsum. In meinem „Fernsprechbuch für die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik BERLIN, Ausgabe 1965, Stand: Dezember 1964“ sind sie alle wohlgeordnet aufgeführt, die Industriewaren- und die Lebensmittelläden. „Sagte man im Westen ,Industriewaren‘?“ frage ich meine Freundin B., die nämlich von dort kommt. Aber sie weiß es nicht mehr. Gern, aber eher selten besucht habe ich die Feinkostläden; höhnische Stimme aus dem Hintergrund: „War Feinkost nicht Feindkost?“ Nein, mein Herr, es gab auch eine sozialistische Feinkost … doch genau hier lässt mich meine „Warenkunde Lebensmittel“ aus dem Jahre 1971 im Stich.

Im Hintergrund jetzt noch mehr Stimmen, Frauenstimmen: „Was soll’n das heißen – bringt doch mehr als Arbeit ein? Dauernd die schweren Kisten rauf und runter, ist das etwa keene Arbeit? Und von der Tür her zog’s, da konnte man sich den Dood hol’n, und denn noch die Jeschichten mit dem Leergut …“ Wohl wahr. Manchmal wurde es lange nicht abgeholt, zum Ärger der Lieferbetriebe. Dazu die Debatten mit den Kunden. In den Verkaufsstellen wurde nämlich oft nur das Bier der nächstgelegenen Brauerei angeboten, und es wurden auch nur die leeren Flaschen mit deren Etikett zurückgenommen. Einen Ausweg gab es immerhin: Man weichte das Etikett ab – mit Müh und Not wurde man sie dann doch noch los.

Kaufhallen sind in dem erwähnten Telefonbuch nur wenige aufgeführt, höchstens ein Dutzend. Bald öffneten weitere, und jedes Mal wurden die kleinen Läden ringsum geschlossen. Die Arbeitsbedingungen waren nun besser, die Bezahlung blieb schlecht. Wenigstens saß man an der Quelle, konnte Mangelware, sofern es sie mal gab, als Tauschmittel nutzen. Manchmal aber kam auch Gutes ins Regal, das für alle da war, die höchst praktische Budapester Fischsoljanka zum Beispiel: Man kochte eine Portion Reis, gab den Inhalt der Büchse darauf, füllte die gleiche Menge Wasser auf … erhitzen … umrühren … fertig. Wer gutes Brot, frische knackige Brötchen brauchte, fand sie seit Neuestem im Laden des Backwarenkombinats in der Schönhauser Allee. Und nahe beim U-Bahnhof Dimitroffstraße wurde ein Sonntagsverkauf für Getränke eingerichtet – der Umsatz war enorm. Im Gegenzug wurde anderes schlechter: Die Rotweinsorten, die Ende der Sechziger die teuersten gewesen waren, um die sechs Mark gekostet hatten, waren zwanzig Jahre später die billigsten, man konnte froh sein, wenn man sie überhaupt bekam. In den Sechzigern hatte es in ganz normalen Läden hin und wieder chinesische Büchsenananas gegeben, in den Achtzigern nur noch bei „delikat“. Manches verschwand völlig aus dem Angebot, sogar so ordinäre Dinge wie die Zungenwurst: Die DDR hatte sich beim Ankauf von Futtermitteln auf dem Weltmarkt Riesenschulden eingehandelt und versuchte nun durch Fleischexport, besonders den Export besserer Teile wie der Zunge eben, Devisen zu erlösen.

Die Währungsunion vom Juni 1990 wirbelte den ganzen ehemals sozialistischen Einzelhandel von Grund auf durcheinander. Viele Läden verschwanden umgehend, andere versuchten sich durch Umprofilierung zu retten, meist erfolglos: In einer Filiale von REWATEX (REinigen und WAschen von TEXtilien) gleich um die Ecke wurden jetzt nicht nur unsere Wäschebeutel angenommen, sondern auch Zeitungen und Zeitschriften verkauft. Später machten sie nur noch das, dann nahmen sie doch wieder Wäsche an, und ein paar Wochen darauf war Schluss. In die Ladenlokale, die viele Jahre mit heruntergelassenen Jalousien vor sich hingedämmert hatten, kam Leben. Anfangs wurden überall Chinarestaurants eröffnet. Sogar die Drogerie am Arnswalder Platz musste solch einem Lokal weichen. Der Inhaber, der mit Leib und Seele Drogist gewesen war, erzählte mir davon; es tat mir leid um ihn. Ein Spiegel mit Werbung für glätt-Frisiercreme hatte bei ihm in einer Ecke noch gehangen; ich hoffe, er ist nicht im Müll gelandet, hoffe es, obwohl diese Creme, ekelhaft parfümiert, ein Schrecken meiner Kindheit war: Sie ins Haar geschmiert zu kriegen war für mich genauso schlimm, als würde man mir das Gesicht mit Spucke abreiben.

Inzwischen ist das bewusste Chinarestaurant längst verschwunden. Geschlossen hat auch das pakistanische hier in der Danziger Straße, auf dem ein Fluch zu lasten schien: Nie sah ich einen Gast darin. Wenn ich mit der Straßenbahn daran vorbeifuhr, setzte ich mich meist so, dass ich es nicht sehen musste. Auch von den Läden, die damals im und am Bötzowviertel, meiner Wohngegend also, eröffnet wurden, hat kaum einer die Jahre überstanden. Der Sexshop, den zwei schmuddlige ältere Männer eröffnet hatten, machte schon nach einigen Monaten dicht: Er war direkt neben einer Bushaltestelle gelegen. Bei anderen Geschäften, so dem Süßwarenladen, wo ich manchmal Marzipanfrüchte und kandierten Ingwer kaufte, war das Angebot zu schmal. An viele kann ich mich nur undeutlich erinnern, oft weiß ich schon nicht mehr, was hier oder da einst war. Betrieben wurden die Läden, so mein Eindruck, noch immer meist von Frauen.

In einem der Berliner Stadtmagazine gab es lange Zeit die Rubrik „Neu eröffnet“; vielleicht, so dachte ich damals, sollte es daneben eine Rubrik „Für immer geschlossen“ geben, wo das Ende von Läden und Restaurants liebevoll-mitfühlend oder kritisch-höhnisch kommentiert werden könnte. Auch nach dem Schicksal der Gescheiterten wäre zu fragen gewesen. Die letzte Schließung in unsrem Viertel ist gerade erst ein paar Wochen her: Der Schmuck- und Modeladen „Augustkinder“ machte nach zwei Jahren still und heimlich zu. Aber schon wird in einem Ladenlokal nahebei gemauert, gehämmert und gebohrt, werden Tausende und Abertausende verbaut für ein Schokoladengeschäft, das sich vermutlich auch nicht lange halten wird: Es ist zu speziell für den Standort. Ich staune immer wieder, welche Kräfte und vor allem welche Hoffnungen, Illusionen sogar solch ein Vorhaben freisetzen kann.