In Mainz, im Verlag der Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz, erschien 1996 „Das Brauchbüchlein der Caroline Otte. Handschriftliche Aufzeichnungen aus dem Jahre 1842 von der Insel Rügen“, bearbeitet und als Band 11 der „Mainzer kleine Schriften zur Volkskunde“, veröffentlicht von Karin Dosch-Muster, einer Urenkelin der Caroline Otte. Es ist das bisher einzige bekannte und publizierte Büchlein dieser Art von der Insel Rügen, was (auch) daran liegen kann, dass man glaubte, Abschreiben, Verborgen oder falsches Gebrauchen eines Brauchbüchleins könnten schwere Krankheiten oder gar den Tod zur Folge haben.
Die so genannten „Brauchbüchlein“ waren handbeschriebene lose oder in Heften gebundene Sammlungen von Sprüchen, Rezepten, Heil- und Zaubermitteln, Schutz-, Segnungs- und Beschwörungsformeln, die überwiegend im ländlichen Raum anzutreffen waren und zumeist von Generation zu Generation übermittelt wurden. Sie bieten interessante Einblicke in eine naive Mischung von tiefem Glauben, überlieferten Sitten und durchaus praktischer ländlicher Medizinanwendung, mit der man gegen alle denkbaren Widrigkeiten des täglichen Lebens in einer Zeit anging, in der man nicht den teuren und oft weit entfernt wohnenden Arzt, sondern eine Person mit heilenden Kräften, meist eine heilkundige Frau aufsuchte. Zu den „Widrigkeiten“ gehörte offenbar auch der Gang zum Gericht bei Erb- oder Grenzstreitigkeiten, bei dem man sich durch das Mitnehmen und dreimaliges Aufsagen eines Segensspruches Hilfe versprach.
Der Begriff „brauchen“ wird hier nach verbreiteter Auffassung im Sinne von „besprechen“, „segnen“ oder „heilen“ verwendet, offenkundig ist aber auch die Beziehung zu „Brauchtum“, das heißt zu traditionellen Verhaltensweisen.
Caroline Otte wurde 1830 in Neddesitz bei Sagard auf Rügen geboren, heiratete 1854 den Müllermeister Wilhelm Engelbrecht, von 1850 bis 1864 Besitzer einer Holländermühle in Capelle auf Rügen, später Handelsmann in Stralsund. Caroline hatte sieben Söhne, der jüngste, Ernst, war der Großvater, dessen älteste Tochter die Mutter der Herausgeberin des Buches ist, das sie 1985 im Nachlass des 1956 verstorbenen Großvaters fand. Es steckte in einem Umschlag mit der Aufschrift: „‚Der Mutter Caroline Engelbrecht anläßlich der Schulprüfung im Jahre 1842 verliehenes und mit Heilsprüchen und Rezepten versehenes Buch‘, Düsseldorf-Oberkassel; 28. April 1951, Markgrafenstraße 12, E. E.“. Großvater Ernst Engelbrecht, der oft geheimnisvolle Reden, Wünschelrutengehen, Pendeln und Versuche von Fernheilung unternahm, hatte das Buch vermutlich von seiner Mutter übernommen. Da seiner Familie „spökenkiekerische“ Neigungen suspekt waren, dürfte das Buch wohl versteckt aufbewahrt worden sein, was typisch für derartige Aufzeichnungen war, glaubte man doch, die Kunst des „Brauchens“ könne nur im Verborgenen wirken.
Hintergrund des auf Heilung abzielenden „Brauchens“ ist der Volksglaube, dass Krankheiten und Gebrechen nicht Mangelerscheinung im eigenen Körper seien, sondern Angriffe von außen, weshalb ein Heilungsvorgang ein „Kampf mit einer fremden Macht“ wäre. Dabei wendet sich der Zauberspruch im Gegensatz zum Gebet, das sich an eine höhere Macht gerichtet wird, direkt an den Kranken und die Krankheit, erläutert die Herausgeberin des Büchleins.
Auf 29 in Sütterlin handgeschriebenen Seiten finden sich 58 Zaubersprüche und 61 Rezepte, mit denen Mensch und Tier behandelt werden konnten.
Die Zaubersprüche, die meist mit christlichen Grundgebeten (überwiegend dem Vaterunser) beendet werden, treten in unterschiedlichen Formen auf, unter anderem als
- einfache Beschwörungen. Bei Bindehautentzündung oder Gerstenkorn (so genannten Strohhalmaugen) lautet der Spruch: „Strohalmaugen, was schadet dir, Strohhalmaugen, was bannt dich, Strohhalmaugen, du sollst wieder sehen.“ Dazu mussten drei Strohalme nacheinander rückwärts über den Kopf geworfen werden.
- als Austreibung oder Bedrohung einer als Dämon vorgestellten Krankheit: „Hartspann (hier: Husten – D.N.) ich beschwöre dich, laß das Reißen und das Zittern sein … Angst und Schmerzen sollen verschwinden wie der Rauch im Wind …“
- als Übertragung der Krankheit auf einen bestimmten Gegenstand: „Wenn eine Schnake gestochen hat, was machst du hier, du giftiges Tier, ich nehme diesen Stein, vertreib dir deine Pein …“
- als Analogiezauber: „Wehtag (Schmerz – D.N.) tu verschwinden wie das Laub an der Linde, wie das Laub am Baum …“
Die 61 Rezepte enthalten teilweise nicht alltägliche Mittel und Mischungen (zu Pulver gemahlener gebrannter Pferdehuf, Haare vom Geschlechtsteil, Fischbeinpulver, Fischleber, weißes Wieselfell, Kornsperlingsdreck, Kopf einer weißen Taube), die Mensch und Tier eingerieben oder eingeflößt werden sollten. Auch unter den damit behandelten Krankheiten gibt es einige, deren Namen uns heute fremd vorkommen oder eine andere Bedeutung haben, etwa Abzehrung (zunehmende Abmagerung durch verschiedene Krankheiten), Wurm (verschiedene Arten in Verbindung mit Wunden auf der Haut), Frosch (Geschwulst im Mundraum) oder Hartspann (Gelenkschmerzen im Schulterbereich, aber auch Husten, Erkältung).
Eingängiger sind dagegen die beiden folgenden Rezepte: „Wenn eine Kuh die Scheißerei hat“, soll man ihr entweder ein Viertel Pegel – ein regionales Flüssigkeitsmaß – gebratenen Speck eingeben und eine halbe Stunde später eine Handvoll gekochter gelber Blumen. Oder alternativ einen Löffel Ziegelsteinmehl, eingerührt in ein halbes Viertel Buttermilch.
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