14. Jahrgang | Nummer 13 | 27. Juni 2011

Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen

von Peter S. Schönhöfer / Angela Spelsberg

Die pharmazeutische Industrie ist von einer zunehmenden Innovationsschwäche gekennzeichnet, weil sie im Rahmen neoliberaler Profitorientierung ihre eigene Grundlagenforschung als zu kostspielig abgebaut hat. Damit kann sie nicht nur fast keine eigenen innovativen Produkte mehr für die Vermarktung entwickeln, sondern hat auch keine eigenen Experten mehr mit Kompetenz zur Beurteilung von innovativen Entwicklungen.
Fehlentscheidungen bei Investitionen und Fixierung auf die Entwicklung von Analogpräparaten ohne therapeutischen Zusatznutzen sind die Folge: Im Zeitraum 1990 bis 2009 wurden weltweit 553 neue Wirkstoffe in den Markt eingeführt, von denen nur acht eine echte Innovation beinhalten, die die Lebenserwartung einer großen Zahl von Patienten relevant verlängern können. Von diesen acht Innovationen stammen nur zwei aus dem Zeitraum 2000 bis 2009. Etwa 50 weitere neue Wirkstoffe stellen Schritt-Innovationen für kleinere Gruppen von Patienten oder spezielle Behandlungsprobleme dar. Aber etwa 500 der 553 neuen Wirkstoffe (90 Prozent) sind nichts anderes als für die Therapie überflüssige Analogprodukte, also Schein-Innovationen zur Profitmaximierung und Verteuerung der Therapie ohne zusätzlichen therapeutischen Nutzen.
Solche Analogpräparate ohne relevanten Zusatznutzen können sich im Qualitätswettbewerb nicht durchsetzen, sondern lassen sich nur mit Hilfe von kriminellem Marketing (finanzierten Experten, gekauften Verordnungen, manipulierten Angaben zu Wirksamkeit, Anwendungsgebieten und Sicherheit) oder mit erfundenen Erkrankungen, also mittels Irreführung und Betrug, vermarkten. Experten und Meinungsführern, denen sowohl Ärzte wie auch Patienten besondere fachliche Kompetenz zuordnen, kommt dabei hohe Bedeutung zu. Sie für die eigenen Produkte zu gewinnen kostet viel Geld. Deshalb stiegen die Aufwendungen der Pharmafirmen für das Marketing seit 1960 von 10 Prozent des Umsatzes auf mehr als 40 Prozent, während umgekehrt der Aufwand für Forschung und Entwicklung  von 40 Prozent auf etwa 10 Prozent abnahm.
Ein wesentliches Instrument des kriminellen Marketings der Pharmaindustrie ist somit die Erzeugung von Firmenabhängigkeiten bei Experten und Meinungsbildnern durch Zuwendungen, damit diese als Marketing-Agenten nicht nur bei wissenschaftlichen Diskursen, Fachgesellschaften und Veranstaltungen einsetzbar werden, sondern auch als Schreiber von Behandlungsleitlinien oder Fachberater bei Patientenorganisationen. Auch Ärzte müssen direkt geködert werden, damit sie überteuerte schein-innovative Produkte verordnen. Um Irreführung und Verordnungskauf erfolgreich zu betreiben, müssen diese Marketing-Agenten in der Öffentlichkeit als unabhängige Experten gelten, also deren materielle Abhängigkeiten nach Möglichkeit verschleiert werden. Die Beispiele für solche verdeckten Abhängigkeiten von Experten sind vielfältig:
– die ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin, die die Richtlinien der Regierung für Schutzimpfungen bestimmen soll: Nur drei der 16 Mitglieder hatten zu einem bestimmten Zeitpunkt keine materiellen Interessenskonflikte, das heißt, keine Beziehungen zu Impfstoffherstellern. Entsprechend herstellerfreundlich fielen die Empfehlungen der STIKO aus, etwa bei der Schweinegrippe.
– der Essener Neurologe, der öffentlich die Einnahme von fragwürdigen Produkten wie Pestwurz oder Coenzym Q10 sowie von überteuertem AGGRENOX (sechzigmal teurer als ASS) propagiert, obwohl hinreichende Nutzensbelege fehlen. In Fachorganen findet man bei ihm Interessenskonflikte mit 29 Herstellern.
– der niedergelassene Arzt, der vom Pharmavertreter ein Kopfgeld pro Patient angeboten bekommt, wenn er das Produkt des Herstellers verordnet. Kopfgelder, die unter dem kaschierenden Euphemismus Anwendungsbeobachtungen (AWB) firmieren, können zwischen 20 und 1.000 Euro, aber auch mehr betragen. Faktisch beinhalten solche AWB Bestechung oder Kauf von ärztlichen Verordnungen, um den Umsatz zu steigern. Im Jahre 2005 ließ zum Beispiel die Firma AstraZeneca für NEXIUM an 122.000 Patienten AWB durchführen. Diese summierten sich auf etwa 27 Prozent des Gesamtumsatzes von 170 Millionen Tagesdosen (260 Miollionen Euro).
Weitere Strategien der Umsatzsteigerung mittels kriminellen Marketings bestehen im Manipulieren, Schönen, Verfälschen oder Unterdrücken von Daten und Ergebnissen in firmengesponserten Studien. Dies wird dadurch erleichtert, dass es in Deutschland den Straftatbestand des Wissenschaftsbetrugs nicht gibt und die Datenhoheit des Herstellers als Instrument der Geheimhaltung missbraucht werden kann. Wie verbreitet Manipulationen und Fälschungen von firmengesponserten Studien sind, ergibt sich aus einer Auswertung von Studien zur Wirksamkeit von Antidepressiva, die der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA im Jahre 2008 vorlagen: Von 74 Studien waren nur 38 (51 Prozent) positiv, zwölf (16 Prozent) waren fraglich und 24 (32 Prozent) negativ. In der veröffentlichten Fachliteratur finden sich dagegen nur 51 Studien, von denen 48 (94 Prozent) positiv sind. Der Unterschied kommt dadurch zustande, dass von den Herstellern bei der Publikation elf der negativen/fraglichen Studien zu Positivstudien verfälscht und 21 der 24 Negativstudien unterdrückt wurden. So ließ sich durch Wissenschaftsbetrug die Zahl der Positivstudien bei Antidepressiva von real gerade einmal 50 Prozent auf werblich überzeugende 94 Prozent hoch manipulieren.
Um ihre Produkte zu vermarkten, erfindet das kriminelle Marketing der Hersteller auch Krankheiten oder Krankheitsgefahren. Im Jahre 2006 wurde eine mögliche Verbreitung der Vogelgrippe, einer gefährlichen Zoonose, befürchtet. Die Impfstoffhersteller entwickelten gegen das Virus Impfstoffe (so die Firma GlaxoSmithKline/GSK PANDEMRIX), aber eine Vogelgrippe-Pandemie trat nicht ein. Um den Impfstoff trotzdem vermarkten zu können, suchten die Hersteller ein Virus, das mit dem Vogelgrippe-Impfstoff behandelbar war und das ersatzweise zur Pandemiegefahr erklärbar war. Im Jahre 2009 fand sich dafür das Schweinegrippe-Virus. Im Mai 2009 erklärte der britische Regierungsberater für medizinische Großschadensereignisse, Sir Roy Anderson, die damals in Mexiko herrschende Schweinegrippe zur Pandemiegefahr. Was damals niemand wusste: Anderson erhielt seit drei Jahren jährlich 135.000 Euro als verdeckte Zuwendungen von GSK.
Auf der Grundlage von Andersons „Expertise“ stellte auch die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Pandemiegefahr fest und löste den Plan zur Gefahrenabwehr aus, der die Mitgliedsstaaten der WHO verpflichtet, Massenimpfungen durchführen. Deutschland musste Impfstoff für 50 bis 60 Millionen Menschen im Werte von etwa 600 Millionen Euro beschaffen. Weltweit spülte das relativ harmlose saisonale Schweingrippevirus durch die von den Impfstoffherstellern erfundene Pandemiegefahr etwa 18 Milliarden US-Dollar in deren Taschen.
Dabei war das Schweinegrippe-Virus nichts Neues. Bereits 1976 hatten die USA dagegen eine Impfkampagne durchgeführt und diese abgebrochen, als sich das Virus als relativ harmlos erwies und die Impfung Nebenwirkungen zeigte. Diese Informationen wurden von den Experten der WHO unterdrückt, wie die Fehleranalyse der WHO-Entscheidung durch den Europarat zeigte.

Wird fortgesetzt.