23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Widerstand, nicht Resignation

von Mario Keßler

Die vor neunzig Jahren, am 14. September 1930, abgehaltenen Reichstagswahlen sollten zur Markscheide für die Weimarer Republik und nicht zuletzt für die SPD werden; jene Partei, die am stärksten mit der Republik verbunden war – mit ihren Errungenschaften wie ihren Defiziten. Die Weimarer Republik war Ergebnis des Sieges wie der Niederlage der Arbeiterbewegung. Die von der SPD-Führung in der Novemberrevolution verantworteten Militäreinsätze ließen hunderttausende von Arbeitern zu Feinden der Sozialdemokratie werden und vertieften die seit 1914 faktische Spaltung der Arbeiterbewegung. Die Weltwirtschaftskrise führte schließlich zur Aufkündigung der fragilen Akzeptanz des parlamentarischen Systems durch ein sich immer mehr radikalisierendes Kleinbürgertum. Das Industrie- und Agrarkapital hatte, wenn überhaupt, ohnehin nur sehr bedingt die parlamentarische Demokratie akzeptiert und sich in der Wirtschaftskrise von ihr abgewandt.

Vor diesem Hintergrund sind die sechs Millionen Stimmen für die NSDAP zu sehen, die mit einem Anteil von 18,3 Prozent an Wählerstimmen 107 Abgeordnete im neuen Reichstag stellte. Von der kleinsten wurde sie zur zweitgrößten Fraktion. Auch die KPD gewann Stimmen hinzu, überschätzte aber die eigenen Wahlerfolge und unterschätzte wie die SPD die tödliche Dynamik der Nazi-Bewegung. Die SPD blieb stärkste Partei, verlor aber die Regierungsgewalt im Reich und übte sich fortan in sogenannter konstruktiver Opposition gegenüber Reichskanzler Heinrich Brüning. Sie tolerierte dessen Politik der Notverordnungen auf dem Rücken der Arbeiter durch Stimmenthaltung. Der Leipziger SPD-Parteitag bekräftigte im Juni 1931 diesen Kurs.

Die SPD-Linke warnte, eine solche Politik sei auf Sand gebaut und könne das Bürgertum vom Marsch nach rechts nicht abhalten. Nötig sei vielmehr ein ernsthafter Versuch, die KPD vom „sozialfaschistischen“ Irrweg, der die SPD als „Hauptfeind“ sah, abzubringen und zu einer Einheitsfront mit der SPD zu bewegen. Doch ignorierte die SPD-Spitze die Warnungen. Zum Bruch kam es, als neun sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete die Zustimmung zu einem (nach 1928 weiteren) Panzerkreuzerbau verweigerten. Sie wurden der Verletzung der Parteidisziplin angeklagt, lehnten eine Unterwerfung unter die Beschlüsse des Vorstandes ab und mussten die SPD verlassen.

Ihr Ausschluss zog den Austritt oder Ausschluss weiterer SPD-Linker nach sich: Am 4. Oktober 1931 gründeten die Ausgeschlossenen die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, die SAP. Sie umfasste ein breites Spektrum. In ihr wirkten Marxisten wie Fritz Sternberg, Klaus Zweiling und Walter Fabian, Pazifisten wie Heinrich Ströbel und Richard Kleineibst, sozialdemokratisch orientierte Linke wie Anna Siemsen oder Reste der USPD und des Sozialistischen Bundes mit Theodor Liebknecht beziehungsweise Georg Ledebour, dem Veteranen der deutschen Arbeiterbewegung. Die Parteivorsitzenden Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld versuchten, die divergierenden Strömungen zusammenzuhalten. Paul Levi, der zur Führungsfigur dieser Partei hätte werden können, war anderthalb Jahre vorher verstorben. Teile der SPD-Jugendorganisationen in Württemberg, im Frankfurter Raum und besonders in Westsachsen gingen zur neuen Partei, die, eigenen Angaben zufolge, über zwanzigtausend Mitglieder zählte.

Dieser Mitgliederstand konnte nicht aufrecht erhalten werden, nachdem sich die SAP im Juli 1932 an den Reichstagswahlen beteiligt hatte, dort aber im Promillebereich steckengeblieben war. Die Faschismus-Analysen der SAP-Theoretiker Sternberg und Zweiling waren indes frei von Illusionen, wie sie in der SPD noch verbreitet waren. Die SAP glaubte nicht an die Bereitschaft des deutschen Bürgertums, die Demokratie zu verteidigen, von wenigen bürgerlichen Linken abgesehen. Während die kommunistischen Kritiker der KPD, die sich namentlich im Leninbund, der KPD-Opposition und der Linken Opposition (den Anhängern Trotzkis) sammelten, auf eine Erneuerung der KPD setzten, sah sich die SAP als Keimzelle einer Dritten Kraft der Arbeiterbewegung jenseits von SPD und KPD. Daran scheiterte sie. Im Exil blieb die SAP, bei ständig abnehmender Bedeutung, bis 1939 noch wahrnehmbar.

Es sind diese Geschehnisse, die Gerd Irrlitz, emeritierter Professor für Geschichte der Philosophie an der Humboldt-Universität, ins Gedächtnis zurückruft. Sein Buch behandelt sowohl die SAP im Allgemeinen als auch ihre Leipziger Gruppe im Besonderen – und zwar über den Machtantritt des Hitler-Regimes 1933 hinaus. Er schildert die Widerstandstätigkeit der in den Untergrund getriebenen, zumeist sehr jungen SAP-Mitglieder. Sie stellten Flugschriften her, die die Nazi-Propaganda entlarvten. Sie suchten, wo immer möglich, anderen Verfolgten zu helfen. Diese mutige Untergrundarbeit ist Teil der Familiengeschichte des Autors: Sein Vater Hans Irrlitz gehörte zu jener Leipziger SAP-Gruppe, die Anfang 1935 aufflog. Er wurde verhaftet und in einem Prozess in Dresden zu vier Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Drei Mitglieder der Gruppe wurden vom NS-Volksgerichtshof zu Haftstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt. Hans Irrlitz’ Frau Elisabeth, die am Widerstand teilnahm, war nicht von der SPD zur SAP gewechselt, weil die neue Parteigründung die Spaltung der Linken nur noch vergrößern würde.

Einen interessanten Aspekt des gelebten Antifaschismus behandelt Irrlitz in seinem Exkurs zum Thema „Politischer Widerstand und die ideellen Voraussetzungen der Arbeiterkultur“. Nicht nur aus politischer Einsicht, sondern mehr noch aus einer ethischen Haltung heraus entschlossen sich die jungen SAP-Mitglieder zum Widerstand. Sie waren aufgewachsen in den Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung mitsamt dem sie tragenden Gedanken der Klassensolidarität. „Dazu gehörte auch, dass die Arbeiterkultur weniger auf passiven Kunstgenuss bezogen, dafür sehr auf gemeinschaftliche Aktivität gerichtet war“, schreibt der Autor. Das reiche, selbstorganisierte Kulturleben mit den Lesezirkeln und die gemeinsame Zeit im Arbeitersport sorgten für eine Zusammengehörigkeit auch unter Bedingungen der Illegalität. So erwuchs der kollektive Wille, angesichts des übermächtigen Gegners nicht in Resignation zu verharren.

Nur ein Teil der Leipziger SAP-Gruppe überlebte den Nazi-Terror. Hans Irrlitz’ Mutter Pauline nahm sich angesichts des brutalen Drucks das Leben. Hans und Elisabeth Irrlitz traten nach dem Krieg der SED bei und mussten erleben, dass dort ihre SAP-Mitgliedschaft Argwohn hervorrief, wenngleich sie von Repressalien (die zum Beispiel frühere Trotzkisten betrafen) verschont blieben. In ihren letzten Lebensjahren stellte Elisabeth Irrlitz jedoch die Zahlung ihrer SED-Parteibeiträge ein. Ihr Sohn Gerd trat im August 1989, als dies noch großen Mut erforderte, aus der SED aus. Er blieb Sozialist. Die DDR verleugnete lange die Erinnerung an die SAP. Deren Kritik an der KPD schloss sie aus der Traditionslinie der SED aus. Erst spät konnten DDR-Historiker ungerechte Urteile korrigieren. In der Bundesrepublik wurde mit Willy Brandt ein früheres SAP-Mitglied zum Kanzler gewählt. Infolge seines Weges in den Widerstand wurde er zum Feindbild für Neonazis wie für demokratisch maskierte Rechte. Auch um daran zu erinnern, sei das Buch sehr empfohlen.

Gerd Irrlitz: Widerstand, nicht Resignation, Passage Verlag, Leipzig 2018, 192 S., 14,50 Euro.