23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Zur Phänomenologie der DDR-Kultur

von Ulrich Busch

Die DDR gehört dreißig Jahre nach ihrer Selbstauflösung zu den am gründlichsten erforschten Phänomenen der Zeitgeschichte. Es gibt kaum ein Gebiet, einen Bereich oder einen Gegenstand der Forschung, über den in den letzten drei Jahrzehnten so viel und so umfassend recherchiert, dokumentiert, gesammelt, geschrieben und publiziert worden ist wie über die DDR. Dies betrifft nicht nur ihre politische, ökonomische, soziale und kulturelle Struktur und Verfasstheit, ihre Institutionen und Funktionsweisen, sondern auch ihre Geschichte, ihre Traditionen sowie das Denken und Fühlen der Menschen, ihren Alltag und ihre Lebenswelt. Erinnert sei an die großzügig geförderten Vorhaben, wie das Projekt der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ oder das multimediale „Schulprojekt zur DDR-Geschichte“, aber auch an viele kleinere Forschungsaktivitäten, Filme, Ausstellungen, Publikationen und Veranstaltungen. Ihre Gesamtzahl ist unermesslich. Und trotzdem ist das Thema damit keineswegs abgeschlossen. Vielmehr eröffnen sich im Zeitverlauf immer wieder neue Perspektiven auf die DDR und treten Facetten ihrer Geschichte hervor, die in der bisherigen Rezeption keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Dazu gehört die ganzheitliche sowie exemplarische Behandlung der DDR als „kulturhistorisches Phänomen“. Diesem Anliegen hat sich die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. in ihrer Jahrestagung 2019 gewidmet. Jetzt ist im trafo-Wissenschaftsverlag der Tagungsband erschienen: „Die DDR als kulturhistorisches Phänomen zwischen Tradition und Moderne“.

Schon ein erster Blick in das Buch, auf das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort der beiden Herausgeberinnen Dorothee Röseberg und Monika Walter, lässt erahnen, dass hier vom üblichen Pfad abgewichen und ein neuer Weg der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte beschritten wurde. Das Neue besteht vor allem in der gewählten andersartigen Vergleichsperspektive, worin die Entgegensetzung von „Kapitalismus und Kommunismus“ aufgegeben wird und beide Systeme „in größere geschichtliche Zusammenhänge eingebettet werden“. Dieses Herangehen erlaubt es, „politische Formen von Demokratie und Diktatur, die kapitalistischen und sozialistischen Industriezivilisationen und auch die jeweiligen Kulturnationen“ in ein „neues Verhältnis“ zueinander zu setzen. Den methodologischen Schlüssel dafür bietet der Begriff der „Moderne“. Die zentrale Frage lautet daher: „Wie modern war die DDR?“

In den einzelnen Beiträgen wird dieser Frage unter ganz unterschiedlichen Aspekten nachgegangen: unter dem Gesichtspunkt der DDR als Teil einer deutschen Kulturnation, als ein Staat, in dem der Antifaschismus verwirklicht und der Antisemitismus überwunden sei, als ein Land mit neuer Schul- und Bildungskultur, als ein Staat, dessen Wissenschafts- und Kulturverständnis im klassischen Erbe wurzelte, als eine Gesellschaft, deren Grundstruktur ein „sozialistisches Patriarchat“ bildete und worin Verhaltenskodizes dominierten, die der Aufklärung und der protestantischen Ethik verhaftet waren – um nur einige Aspekte zu nennen. Es folgen interessante komparative Studien zur Film-, Kino- und Fernsehkultur sowie zu den Hinterlassenschaften der DDR, verlassenen Fabrikgebäuden, aufgegebenen Kulturstätten, zerstörten Denkmälern, vergessenen Straßennamen, worin „Spuren“ der einstigen Bürgerinnen und Bürger der DDR und deren Leben evident werden. An all diesen Beispielen wird en passant die „Besonderheit der DDR“ sichtbar, ihre Stellung als „Epizentrum des Kalten Krieges“ und als zweiter deutscher Staat, der immer um seine Legitimation und die Deutungshoheit über das gemeinsame kulturelle Erbe zu ringen hatte. Die Formel von der DDR als einem „kulturhistorischen Phänomen“ verweist damit nicht nur auf eine besondere Untersuchungsperspektive, sondern zugleich auch auf den besonderen Stellenwert, den die Kultur in dem sozialistischen Gesellschaftsexperiment „DDR“ inne hatte. Während die politische Geschichte der DDR, ihre Wirtschaftsgeschichte und ihre institutionalisierte Sozialgeschichte mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 ihr Ende gefunden hat, gilt dies für die Kulturgeschichte nicht gleichermaßen. Denn es gehört zu den Besonderheiten in der Geschichte, dass die Lebenswelten und die Kultur einer Gesellschaft fortleben, während die politische, ökonomische und soziale Ordnung längst abgewickelt sind. Auch das will uns das Buch zeigen und anhand eingängiger Beispiele vor Augen führen.

Der Band schließt mit einem sehr lesenswerten Essay der Herausgeberinnen: „Der soziokulturelle Wandel in der DDR. Ein Beitrag zur Modernediskussion“. Hierin wird die kritische Sicht der Autorinnen auf die komplexe und durchaus widerspruchsvolle Historizität des bearbeiteten Diskursfeldes und die dabei sichtbar gewordene „selbstreflexive Kritik der eigenen Denkvoraussetzungen“ akzentuiert. Resümierend wird dabei auch die Frage beantwortet, welche besonderen Erkenntnisgewinne von der Untersuchung „sozial-kultureller Dimensionen“ zu erwarten sind, wenn es um die komparative Deskription „kapitalistisch und sozialistisch organisierter Moderne-Varianten“ geht. Ziel eines solchen Vergleichs soll „die Verortung des gescheiterten Gesellschaftsexperiments der DDR in einer weltweiten Vergleichsperspektive bzw. in einem zukünftigen globalen Diskurs der Moderne“ sein.

Das Buch ist „ein Muss“ für an der DDR-Kultur Interessierte und ein beeindruckendes Dokument aktueller Geschichtsaufarbeitung.

Dorothee Röseberg / Monika Walter (Hrsg.): Die DDR als kulturhistorisches Phänomen zwischen Tradition und Moderne, Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Band 63, trafo-Wissenschaftsverlag, Berlin 2020, 343 Seiten, 39,80 Euro.