23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

Werner Stötzer: Keine Gebärde geht ins Aus

von Klaus Hammer

Er ließ dem Stein, was des Steines ist, und gab dem Menschen, was des Menschen ist. Seine Hände spürten das Geistige in der Materie auf, holten es herauf an die Oberfläche. Wenn er seinen Figuren behutsame, aber dennoch deutlich ablesbare Proportionen verlieh, wenn er die stoffliche Struktur zutage treten ließ, das Spröde, Beharrende, Steinalte, Brüchige, Flackernde, Fluide, dann verdeutlichte er den die Masse bewegenden Geist. Und er ließ dem Menschen die Figur, gab ihm die Balance des Gewichts, die klassische Ausgewogenheit. Daher sind seine Figuren unpathetisch, noch ganz an den Block gebunden, aus dem er sie herausschlug, keine Gebärde ging ins Aus.

Vor 10 Jahren, am 22. Juli 2010, ist Werner Stötzer, einer der bedeutendsten Bildhauer unserer Zeit, im Alter von 79 Jahren verstorben. Er schuf plastische Figuren und Torsi, überwiegend aus Stein, aber auch aus Bronze, Eisen und Holz, und die Bildhauerei flankierten Zeichnungen von erlesener Qualität. Er war auch ein visueller Erzähler von hintergründigem Humor und Sarkasmus, wie eine Auswahl seiner Schriften in der Reihe „akademiefenster“ (2015) ausweist.

Werner Stötzer wurde 1931 in Sonneberg im südlichen Thüringen geboren und erhielt hier auch seine erste Ausbildung als Keramikmodelleur. Er studierte dann in Weimar und Dresden – hier bei Eugen Hoffmann und Walter Arnold – Bildhauerei, wurde Meisterschüler von Gustav Seitz in der Ostberliner Akademie der Künste, lehrte dann auch als Gastdozent an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und von 1987 bis 1990 als Professor an der Akademie der Künste, deren Vizepräsident er von 1990 bis 1993 war. Seit 1980 im Oderbruch ansässig, blieb er aber auch weiterhin seiner Thüringer Heimat und Berlin eng verbunden. Im Heft 59 der „Frankfurter Buntbücher“ hat Karl-Hagen Stötzer das persönliche und bildhauerische Leben seines Vaters im Oderbruch nachgezeichnet.

1964 entstand im Thüringer Wald Stötzers schräg in die Höhe ragender weiblicher „Steinheider Torso“, das erste Werk, das schon alle Merkmale seines dann in vielen Varianten abgewandelten Grundprinzips enthält, den nackten Körper sprechen zu lassen. So erscheinen seine Skulpturen in großer Ruhe und zeitloser Dauer, im lastenden Gewicht des Materials und zugleich in schwebender, flüchtiger Leichtigkeit. Ein Gebirge, eine Felsmelodie von menschlicher Figur. Nicht mehr die vollplastische, runde Form interessierte den Bildhauer. Er verwendete die Steine so, wie sie aus dem Bruch kamen, spürte den Flächen nach, ließ Ecken, Kanten, Schnitte stehen. Dann wieder brach er den Stein auf, zerstörte das Vorgegebene. Denn – so Stötzer – „Zerstören ist am Stein nicht vernichten, in dieser Art zerstören liegt neu finden, abschlagen bedeutet Schichten zu erleben, Sprünge zu sehen und Grabungen zu folgen.“

Der von ihm bevorzugte Marmor ist ein durch seine Feinkörnigkeit, durch seine Struktur und Farbschattierungen auf eine stille Weise ungemein lebendiger, in seiner Sanftheit und seinem funkelnden Glanz dabei sehr edler Stein. So sind Stötzers Skulpturen mineralogischen und kristallinischen Formen verwandt, Körperspuren, die sich dem Stein aufprägen, die sich den Wachstumsformen der Natur einfügen. Es ist, als ob ein Naturgebilde in seiner ruhevollen Schönheit transparent würde. Dabei wird die Abstraktion der Figur nie so weit getrieben, dass dadurch die materialbedingte Gestalt ihren Naturgrund verliert. Stötzer abstrahiert, indem er aus der lastenden Schwere des Vorgegebenen ein Formgefüge in seiner Singularität herausschält. Seine Arbeiten lassen Archetypisches erkennen, verschmelzen Vorstellungen von archäologischem Relikt und formaler Neuschöpfung, von Organischem und Kristallinem, Durchformung und Raumoffenheit zu einer neuen Einheit.

Seinen Arbeiten hat er knappe Titel gegeben: Große Liegende, Große Sitzende mit aufgestütztem Arm, Vilmnitzer Torso, Saale und Werra, Für Bobrowski, Leicht gedreht, Signal, Meerfrau, Stürzender, Odaliske, Die Woge, Paar, um nur einige zu nennen. Aus einem Fundstück entstand die „Gallionsfigur“ (Sandstein, 1998), eine Kniende mit über dem Rücken verschränkten Armen, die einer Karyatide gleicht. Die grafische Struktur auf dem Torso eines attischen Kriegers (Marmor, 1998) wird wie ein pulsierendes Kraftfeld erlebbar. „Saale und Werra“ (Sandstein, 1998), dieses ineinander verschmolzene weibliche Figurenpaar, Rücken an Rücken, erscheint wie ein Gegenstück zu Brancusis „Der Kuss“. Auf dem Körper der Michael-Kohlhaas-Stele (Marmor, 1998) sind mit dem Eisen scheinbar richtungslos Striche aufgetragen, sie wirken wie mit dem Pinsel getupft, wie ein sanftes Streicheln der Haut.

Stötzer hat der jüdischen Opfer von Babi-Jar (um 1971), der Frauen von Auschwitz (1971–1975) und der „Zigeuner von Marzahn“ (1982–1988) bildhauerisch gedacht. Mit dem fünfteiligen Marmorrelief „Alte Welt“ (vollendet 1986) für das Berliner Marx-Engels-Forum spürte er Körperhaltungen und -gebärden auf das Wesentliche reduzierter, eingezwängter Figuren nach: Leid und Trauer, Zueinander- und Widerstehen, Absturz und Wiederaufrichten – kein Aufstreben! – werden hier dargestellt. Es trifft das spätere Wort zu: „Mein Inhalt ist weder der Himmel noch die Hölle, es ist der Mensch“.

Torsohaft auch die Bronzen: Eine unterlebensgroße Undine (1996) in grüner Patina, in freier Figuration, halb Mensch, halb Elementargeist, ihren Körper wie ein Quell des Lebens darbietend, oder der „Prenzelberger Torso“, eine atmende Bronzefolie mit unmerklichen Hebungen und Senkungen, durch die sich schmerzvoll ein vertikaler Grat zieht. Dann wieder „Märkisches Tor“ (2006-2008, Sandstein) – zwei sich gegenüberstehende überlebensgroße blockhafte Stelen (das Figürliche ist nur angedeutet), sie halten mit erhobenem Arm Ausschau übers Land, Standfestigkeit und Blickweite andeutend. „Die Oder“ (2005–2008, Kalkstein), eine liegende Figur mit aufgestütztem Arm und angezogenem Bein, ist gleichsam zur schwimmenden Menschenbank geworden. Sie robbt dahin wie die Welle über Katarakte. Die Natur, das Archaische, das Abstrahierend-Prozesshafte interessierte Stötzer in gleicher Weise. Er blieb sinnenhaft in der Abstraktion auch dort, wo die Figur zum Sinnbild von Natur wird. Gelassen stehen sie gegen die Betriebsamkeit unserer Zeit. So wie Stötzer sich selbst treu geblieben ist, stetig und wandelbar, demonstrieren seine plastischen Sinnzeichen Würde und Haltung in einer existenziell bedrohten Welt.

Als Befreiungen aus den Zwängen des schweren Materials hat Stötzer immer wieder das Aktzeichnen empfunden. Seine Zeichnungen sind keine Werkskizzen, sondern durchaus selbständige Improvisationen: ein Formeinfall wird ausgesponnen, die Möglichkeiten durchprobiert, wie Form an Form sich verändert. Während er in Kohle und Bleistift die Linien exakt ausführt, sind die Gouachen ganz vom Erlebnis des Malerauges bestimmt. So wie aber die Reliefs auf dem Stein aus der Zeichnung kommen, ist auch die Zeichnung zugleich Spiegelung der Figuren aus Stein und Bronze.

Der Kunsthandel Dr. W. Karger, stilwerk Berlin, Kantstr. 17, 10623 Berlin, zeigt bis 8. August „Werner Stötzer – Skulpturen, Plastiken, Zeichnungen“. Auf Youtube ist ein Rundgang durch die Ausstellung zu sehen.