Wohl niemand zweifelt daran, dass die Côte d’Azur zu den schönsten Küstenabschnitten des Mittelmeeres gehört. Uneinigkeit scheint allerdings bei der Frage zu herrschen, von wo bis wo sie sich – geographisch betrachtet – eigentlich erstreckt. Manche Quellen geben Cassis als westlichsten Punkt an, andere sprechen von Toulon, Hyères oder gar Saint-Tropez. Einzig die östlichste Begrenzung scheint unumstößlich: die französisch-italienische Grenzstadt Menton. Für Reisende sind solche Dinge nicht von Belang, die wollen wissen: Wo ist es am schönsten? Und da gibt es einige Orte …
Vertrauen wir uns der in Sanary-sur-Mer, der „Hauptstadt der deutschen Literatur“ (siehe Blättchen 19/2018), aufgewachsenen Deutsch-Französin Magali Nieradka-Steiner an. Für die vom Düsseldorfer Droste Verlag herausgegebene, mittlerweile 79 Bände umfassende Reihe „Glücksorte“ hat sie sich abseits der üblichen Touristenrouten auf die Suche nach dem Besonderen gemacht. Der Weg führt zu kleinen Küstenorten und in besondere Museen, Empfehlungen für Kulinarisches oder Regionaltypisches finden sich ebenso wie Hinweise zu Ausflügen ins malerische Hinterland. Auf den knapp 100 Kilometern zwischen Fréjus und Menton hat die Autorin 80 Orte und Sehenswürdigkeiten ausgemacht, die den nächsten Urlaub an der Côte d’Azur zu einem unvergesslichen und glückhaften Erlebnis machen.
Eine der ersten Stationen auf ihrer Glücksorte-Tour ist die kleine und überschaubare Altstadt von Saint-Raphaël. Nach einem Besuch des archäologischen Museums entführt uns Nieradka-Steiner in den Feinkostladen „Girofle & Canelle“, zu Deutsch „Nelke & Zimt“. Wenn selbst Sternekoch Alain Ducasse von der Qualität der angebotenen Produkte überzeugt ist, dann verwundert es nicht, dass der Laden auch Monacos Fürstenhaus beliefert. Gewürze, Öle, verschiedene Zuckersorten – der Besuch an diesem Ort verspricht zu einem Fest für alle Sinne zu werden.
Weiter geht es in das rund fünfzig Kilometer entfernte Antibes. Schon vor mehr als 2000 Jahren legten die Griechen an dieser Stelle den Grundstein für eine Siedlung. Auf der ehemaligen Akropolis errichteten die heute das Fürstentum Monaco regierenden Grimaldis im 13. Jahrhundert ein Schloss, das 1925 von der Stadt erworben und zu einem Museum umgestaltet wurde. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich Picasso eine Zeit lang in der Stadt auf und durfte einige Räume des Schlosses als Atelier nutzen. Zum Dank dafür schenkte er der Stadt später 23 seiner Werke – Grundstock der Sammlung für das weltweit erste, 1966 im Schloss eröffnete Picasso-Museum. Ein anderer Maler kam zum ersten Mal 1903 an die Côte d’Azur und ließ sich vier Jahre später dauerhaft dort nieder: Auguste Renoir. Er erwarb ein altes, von einem drei Hektar großen Garten umgebenes Landhaus in Cagnes-sur-Mer und verbrachte seine letzten 12 Lebensjahre an diesem Ort. Heute beherbergt das Haus eines der schönsten Museen an der Küste.
Nizza, die fünftgrößte Stadt Frankreichs, hat zahllose Sehenswürdigkeiten zu bieten. Da ist zum Beispiel die westlich des Bahnhofs gelegene Cathédrale Saint Nicolas, die größte russische Kirche außerhalb Russlands. Zar Nikolaus II. ließ sie Anfang des 20. Jahrhunderts an jener Stelle errichten, an der 1865 der Zarewitsch Nikolai Alexandrowitsch Romanow, Sohn von Alexander II., mit nur 21 Jahren an einer Hirnhautentzündung starb. Vom Schlosshügel hat man einen einzigartigen Blick über die Stadt. Schon Nietzsche, der zwischen 1883 und 1888 insgesamt fünf Winter in Nizza verbrachte, kam immer wieder hier her. Ihm zu Ehren trägt der Aussichtspunkt heute den Namen Terrasse Frédéric Nietzsche. Von dort oben fällt vor allem die sieben Kilometer lange, die Engelsbucht umschließende Promenade des Anglais ins Auge, die durch den Anschlag vom 14. Juli 2016 ins Licht der Weltöffentlichkeit rückte. „Doch das Herz der Stadt“, so Magali Nieradka-Steiner „schlägt wieder, und die Promenade des Anglais ist und bleibt Nizzas Glücksort Nr. 1“.
Auf der in den 1860er-Jahren erbauten, von Nizza nach Menton führenden Klippenstraße M 225 erreicht man die 5000-Seelen-Gemeinde Villefranche-sur-Mer, einen der schönsten Orte an der Côte d’Azur. Hier kann man den Spuren von Jean Cocteau folgen. Der Dichter, Maler und Regisseur habe, laut eigener Aussage, „die glücklichste Zeit seines Lebens am Hafen von Villefranche verbracht“. In dem direkt am Wasser gelegenen Hôtel Welcome entstand sein Hauptwerk, der Experimentalfilm „Das Testament des Orpheus“. Nicht einmal fünf Kilometer entfernt befindet sich die Anfang des 20. Jahrhunderts im italienischen Renaissancestil erbaute Villa Ephrussi de Rothschild. Béatrice de Rothschild-Ephrussi, Tochter des französischen Bankiers Alphonse de Rothschild und Gattin des russischen Bankiers Maurice Ephrussi, verwirklichte sich auf der Halbinsel Saint-Jean-Cap-Ferrat diesen „Traum in Rosa“. Das Einzigartige, jeden Besucher in den Bann Schlagende ist jedoch nicht das Haus, sondern der weitläufige, rund sieben Hektar große und neun verschiedene Themengärten einschließende Park. Ein ganz anders gearteter Garten und einer der Glücksorte der Autorin liegt 427 Meter über dem Meer: der Jardin Exotique im malerischen Èze. Von dort oben hat man einen atemberaubenden Blick von Cap-Ferrat bis hin zur Bucht von Saint-Tropez. Und selbst das 202 Hektar große Fürstentum Monaco besteht nicht nur aus Hochhäusern. Inmitten des quirligen Jetsettrubels ist der vor einem Vierteljahrhundert angelegte japanische Garten eine Oase der Stille. Im Unterschied zu „originalen“ japanischen Gärten bestimmt hier die Harmonie zwischen asiatischer und mediterraner Flora das Äußere.
Die letzte Etappe unserer kleinen Reise legen wir auf einem der schönsten Wanderwege der Côte zurück. Ursprünglich Teil des alten, an der Küste verlaufenden Zöllnerweges, des „chemin des douaniers“, führt die Promenade Le Corbusier von Roquebrune-Cap-Martin bis nach Menton. Unterwegs kann man unter anderem einen Blick auf das Sommerhaus von Frankreichs Stararchitekten Le Corbusier oder die Villa E.1027 der irischen Designerin Eileen Gray werfen. In und um Menton herrscht ein ideales Klima für Zitrusfrüchte. Durchschnittlich ist es dort drei bis vier Grad wärmer als im 20 Kilometer entfernten Nizza. Seit dem 16. Jahrhundert hat sich der Ort zur „Welthauptstadt des Zitronenexports“ entwickelt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts zieht die alljährlich von Mitte Februar bis Anfang März stattfindende Fête du Citron tausende Schaulustige an. Und wer nach solch einem Fest noch nicht genug hat, dem empfiehlt die Autorin einen Besuch im „Au Pays du Citron“. Da findet sich alles, was man aus Zitronen herstellen kann: Zitronenwein, Zitronenessig, Zitronenmarmelade und natürlich Limoncello, der berühmte Zitronenlikör.
Magali Nieradka-Steiner: Glücksorte an der Côte d’Azur. Fahr hin & werd glücklich, Droste Verlag, Düsseldorf 2020, 168 Seiten, 14,99 Euro.
Schlagwörter: Côte d’Azur, Magali Nieradka-Steiner, Mathias Iven