von Mathias Iven
Es mag sein, dass es an der Côte d’Azur schönere Orte gibt. Der kleine Hafen, ein paar alte Fischerboote, enge Gassen, verträumte Plätze – Sanary-sur-Mer ist immer noch eine Art Geheimtipp für Touristen. An den Wochenenden oder zu den Feiertagen kommen die Franzosen aus dem nahegelegenen Toulon oder aus Marseille hierher, in der Woche sind die Sanaryens unter sich …
Anfang des 20. Jahrhunderts verirrten sich einige Maler in das kleine, abseits der großen Küstenstraße liegende Städtchen. Bald darauf erlebten es Klaus und Erika Mann als den „sommerliche[n] Treffpunkt der pariserisch-berlinerisch-schwabingerischen Malerwelt“. Und noch ein paar Jahre später sollte es für kurze Zeit die „Hauptstadt der deutschen Literatur“ werden – so jedenfalls sah es Ludwig Marcuse, der von 1933 bis 1939 in Sanary, „an einem der ausrangiertesten Gleise des Weltgeistes“ lebte und dem „kleinen Fischer-Nest“ in seiner Autobiographie „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ diesen auch heutigentags anerkannten Ehrentitel verlieh.
Mittlerweile liegen einige Publikationen vor, die sich mit dem Leben der Exilanten in Südfrankreich und speziell in Sanary-sur-Mer befassen. Man denke nur an die Veröffentlichungen von Heinke Wunderlich oder Manfred Flügge. Auch die in Heidelberg lehrende Deutsch-Französin Magali Nieradka-Steiner widmet sich seit vielen Jahren diesem Thema. Ihr jüngst erschienenes Buch „Exil unter Palmen“ ist eine auf dem neuesten Stand der Forschung stehende und für ein breites Publikum gedachte Überarbeitung ihrer bereits 2010 veröffentlichten Dissertation, die die Bedeutung von Sanary als (E)Migrations-, Erinnerungs-, Gedächtnis- und Gedenkort untersuchte.
Julius Meier-Graefe, Erich Klossowski, Hilde Stieler, Walter Bondy, Ernst Bloch – diese und weitere 63 Namen finden sich auf einer im Jahre 2011 am Office de Tourisme von Sanary angebrachten Tafel. Es sind die Namen von deutschen und österreichischen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen, die in Sanary und den umliegenden Orten Schutz vor den Nationalsozialisten suchten und deren Schicksalen Nieradka-Steiner in ihrem Buch nachspürt.
Zu denen, die kamen, gehörte auch der gebürtige Elsässer René Schickele, ehemals Chefredakteur der Straßburger Neuen Zeitung und Herausgeber der Weißen Blätter. Thomas Mann, von Schickele auf die Vorzüge des Ortes aufmerksam gemacht, bezog im Juni 1933 für ein paar Monate die über dem Ort gelegene Villa „La Tranquille“, in der Tasche hatte er das Manuskript von „Joseph in Ägypten“. Sein Sohn Klaus hielt sich zwischen 1933 und 1937 vier Mal in Sanary auf. Im Mai 1936 wohnte er in dem am Hafen gelegenen Hôtel de la Tour und schloss dort seinen Roman „Mephisto“ ab.
„Hier ist man eben Kurgast und nicht Emigrant.“ So umschrieb Marta Feuchtwanger in einem an Arnold Zweig gerichteten Brief ihre neue Lebenssituation. Für ihren Mann Lion sollten es die produktivsten Jahre seines Lebens werden. In Sanary beendete er „Die Geschwister Oppermann“ und schrieb die Romane „Der falsche Nero“ sowie „Exil“.
Doch es dauerte nicht lange und aus den „Kurgästen“ wurden „ressortissants ennemis“, „feindliche Ausländer“. Bereits kurz nach Kriegsbeginn richteten die Franzosen im ganzen Land Internierungslager ein. Eines davon entstand in der Ziegelei von Les Milles, einem Vorort von Aix-en-Provence. Männer aus 27 Nationen wurden hier zusammengetrieben. Les Milles galt als „Intellektuellenlager“, da die Zahl der inhaftierten Schriftsteller und bildenden Künstler hier besonders hoch war. Unter den deutschen Gefangenen befanden sich Max Ernst, Walter Hasenclever, Golo Mann, Walter Benjamin und Friedrich Wolf. Auch Feuchtwanger gehörte dazu. Seine Erinnerungen an diese Zeit veröffentlichte er 1942 unter dem Titel „Unholdes Frankreich“.
Mit dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich verschärfte sich die Lage der Exilanten weiter. „Spätestens im Mai 1940“, so fasst Nieradka-Steiner die damalige Situation zusammen, „wurde aus Sanary ein Ort, dessen Nähe zu Marseille für die Exilanten überlebensnotwendig wurde. Die große Hafenstadt war für viele die letzte Hoffnung, über das Meer in die Vereinigten Staaten, nach Latein- und Südamerika oder Nordafrika zu kommen.“
Doch dazu brauchte es Unterstützung …
*
In seinem äußerst spannungsreich geschriebenen Buch „Fluchtpunkt Lissabon“ schildert Dierk Ludwig Schaaf auf der Grundlage zahlreicher bisher nicht oder nur unvollständig ausgewerteter Dokumente die Geschichte der damals tätigen Fluchthelfer.
Eine ganz außergewöhnliche Person, der Schaaf besondere Aufmerksamkeit schenkt, war sicherlich der als „portugiesischer Schindler“ geltende Aristides de Sousa Mendes. Der seit 1910 im diplomatischen Dienst stehende Sousa Mendes leitete ab September 1938 das portugiesische General-Konsulat in Bordeaux. Bis heute ist unklar, wie vielen Menschen er durch die Ausstellung entsprechender Papiere – „ungeachtet der Nationalität, Rasse oder Religion“ – die Möglichkeit zur Flucht aus Europa gegeben hat. Schätzungen sprechen von bis zu 30.000 Personen.
Sousa Mendes, der entgegen den Anweisungen von Präsident Salazar handelte, wurde im Sommer 1940 vom Dienst suspendiert. Nach seinem Tod im Jahre 1954 kämpften seine Kinder um seine Rehabilitierung. Erst 1976 wurde festgestellt: „Aristides de Sousa Mendes wurde verurteilt, weil er sich geweigert hat, zum Komplizen der Kriegsverbrechen der Nazis zu werden. Darin lagen der Sinn und die menschliche Tragweite seines Ungehorsams.“ Bis zur vollständigen Rehabilitierung vergingen noch weitere zwölf Jahre.
Ein anderer, heute weitaus bekannterer Fluchthelfer war der Amerikaner Varian Fry. Im Vorwort zu seinen 1945 unter dem Titel „Surrender on Demand“ veröffentlichten Erinnerungen heißt es: „Die Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 war nicht nur gleichbedeutend mit der Niederlage des französischen Volkes, sie schuf auch eine Situation, die zu einer der größten Menschenjagden in der Geschichte führte.“ Fry kam im Juni 1940 nach Marseille. „Ich fuhr ab in dem Glauben“, schrieb er später, „meine Arbeit innerhalb eines Monats erledigt zu haben. Ich blieb dreizehn Monate, und als ich schließlich – gegen meinen Willen – zurückkehrte, war die Arbeit noch lange nicht getan.“ Mehr als 2.000 Menschen, darunter die „Blüte der europäischen Intelligenz“, verhalfen Fry und seine Mitstreiter zur Flucht in das neutrale Portugal, von wo aus sie nach Amerika weiterreisen konnten. Am Ende seines Buches stellt Schaaf fest: „Wer als einzelner gegen die Strukturen ankämpft, zahlt einen hohen Preis.“ Doch welchen Preis ist man bereit zu zahlen? „Die Fluchthelfer wussten die Antwort.“
Magali Nieradka-Steiner: Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer, Theiss Verlag/WBG, Darmstadt 2018, 272 Seiten, 24,95 Euro.
Dierk Ludwig Schaaf: Fluchtpunkt Lissabon. Wie Helfer in Vichy-Frankreich Tausende vor Hitler retteten, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2018, 423 Seiten, 32,00 Euro.
Schlagwörter: Dierk Ludwig Schaaf, Exil, Frankreich, Magali Nieradka-Steiner, Mathias Iven